Es war einmal ein kleiner Junge, der aus Langeweile und Lust am Chaos regelmäßig schrie: „Der Wolf kommt!“ Das Dorf kam angerannt, die Mistgabeln erhoben, die Herzen rasend – und jedes Mal lachte der Junge sich ins Fäustchen. Als der Wolf wirklich kam, blieb das Dorf zu Hause. Man hatte sich sattgehört. Die Geschichte ist alt, fast zu simpel. Und doch, man mag es kaum glauben, ist sie von beunruhigender Aktualität – nur dass der Junge heute einen Twitter-Account hat und der „Wolf“ nicht länger vier Beine, sondern eine braune Vergangenheit hat. „Der Nazi kommt!“ ruft man heute, oft, schnell, manchmal im Minutentakt. Und mit jeder Wiederholung wird das Echo leiser, das Gehör tauber, die Unterscheidung verschwommener.
Wir schreiben das Zeitalter der moralischen Kategorisierung im Sekundentakt. Die politische Linke, zumindest in ihren lautesten, grellsten Auswüchsen auf Social Media, hat sich angewöhnt, den Begriff „Nazi“ oder sein feineres Derivat „Rechtsextrem“ nicht mehr wie ein Schwert zu führen – sondern wie Konfetti zu werfen. Es trifft jeden, der nicht exakt im Takt tanzt, nicht auf der richtigen Plattform spricht, nicht die korrekte Empörung zur rechten Zeit äußert. Früher war man ein Konservativer. Heute ist man dann eben ein Faschist. Die Schattierungen des Diskurses? Aufgelöst im grellen Weiß moralischer Lichtschwerter.
Jüngstes Beispiel: Robert Habeck. Man mag vom ehemaligen Vizekanzler halten, was man will – ein Nazi ist er nicht. Dass man das betonen muss, zeigt bereits das Ausmaß des Problems. In einer Welt, in der ein grüner Politiker, der sich über Jahre hinweg bemüht hat, Sprache, Haltung und demokratische Substanz in Einklang zu bringen, plötzlich von selbsternannten Tugendwächtern als „rechtsextrem-adjacent“ oder gar als „autoritäre Gefahr“ bezeichnet wird, ist der Irrsinn vollständig entfesselt. Habeck, der sich öffentlich gegen Rechtsradikalismus positioniert, wird zum Feindbild stilisiert – ausgerechnet von jenen, die sich die Verteidigung der Demokratie auf die Fahne geschrieben haben.
Wie kommt es dazu? Die Antwort liegt weniger in der Politik als in der Psychologie der sozialen Medien. Die Plattformen fördern Extreme. Mäßigung klickt nicht. Differenzierung ist ein schlechter Algorithmusfreund. Ein Tweet, der sagt „Dieser Politiker hat eine fragwürdige Aussage getroffen“ wird überlesen. Ein Tweet, der schreit „Faschismus in Reinform!“ geht viral. Und so entsteht eine neue Form von digitaler Moralphobie: Die Angst, nicht empört genug zu sein. Wer sich nicht empört, macht sich verdächtig. Wer nicht mitmacht, steht auf der anderen Seite – was automatisch heißt: auf der falschen. Und die falsche Seite ist: rechts, rechtsextrem, Nazi.
Natürlich gibt es Nazis. Echte. Mit Glatzen, Schlagstöcken und antisemitischer Agenda. Es gibt sie in Parlamenten, auf der Straße, hinter Anzugfassaden. Es gibt sie, und sie sind gefährlich. Doch genau deshalb ist der inflationäre Gebrauch des Wortes „Nazi“ nicht nur falsch – er ist fahrlässig. Denn er entwertet den Begriff. Was früher als schreckliche Ausnahme galt, wird heute zur Regel gemacht. Und wenn alles Nazi ist – dann ist am Ende nichts mehr Nazi.
Die politische Linke täte gut daran, sich zu erinnern: Der Kampf gegen rechts ist kein Spiel, kein ästhetisches Spektakel. Er ist eine ernste Aufgabe. Und Ernsthaftigkeit beginnt mit begrifflicher Präzision. Wer den Nazi-Begriff zur Waffe gegen jeden Andersdenkenden macht, verliert am Ende die Fähigkeit, echte Nazis zu erkennen – und zu bekämpfen. Die radikale Mitte, die man zu verteidigen vorgibt, wird so selbst zum Opfer einer Rhetorik, die keine Unterschiede mehr kennt.
Es heißt, die Sprache sei der Seismograph der Moral. Und wenn das stimmt, dann zeigt unser moralisches Gerät derzeit ein Dauerbeben – aber kein echtes Erdbeben. Es rattert, weil wir gelernt haben, aus jedem Furz ein Inferno zu machen. Doch irgendwann wird das Land abstumpfen. Und wenn dann der wirkliche Wolf kommt – der mit Springerstiefeln, Fackelmärschen und realer Gewalt – wird es zu spät sein für Differenzierung. Dann werden wir auf das Echo unserer eigenen Worte stoßen – und nichts mehr hören.
Ein Gedanke zu “Der Junge, der Nazi rief – Über eine inflationäre Dämonisierung”