Die Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Minderheit, die in der heutigen Türkei, Syrien, Irak und im Iran lebt. Sie gehören größtenteils der kurdischen Ethnie an, doch ihre religiöse Identität unterscheidet sich grundlegend von den meisten muslimischen, christlichen oder jüdischen Glaubensgemeinschaften im Nahen Osten. Ihre Religion ist einzigartig und wird von vielen als eine Synthese aus vorislamischen, zoroastrischen und islamischen Elementen beschrieben. Doch im Kern ist der jesidische Glaube eigenständig und steht in scharfem Gegensatz zu den etablierten Religionen in der Region. Der zentrale Glaubenssatz der Jesiden ist die Verehrung von Melek Taus, dem „Pfauenengel“, der als Mittler zwischen dem Schöpfergott und der Welt verstanden wird. Doch genau diese Abweichung von den Hauptströmungen des Islam macht die Jesiden seit Jahrhunderten zu einem Ziel religiöser Verfolgung.
Die Geschichte der Jesiden: Eine Geschichte der Verfolgung
Die Geschichte der Jesiden ist eine Geschichte des Überlebens – über Jahrhunderte hinweg haben sie ihre Religion und Kultur gegen zahlreiche Versuche der Auslöschung bewahrt. Bereits im Mittelalter wurden sie von islamischen Herrschern als „Häretiker“ verfolgt, weil ihre religiösen Überzeugungen als unvereinbar mit dem orthodoxen Islam galten. Doch die Verfolgung nahm im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neue Formen an.
Im 19. Jahrhundert gerieten die Jesiden vor allem in der Osmanischen Reichszeit immer wieder ins Fadenkreuz von religiösen und ethnischen Konflikten. Besonders die Kurden, die einen erheblichen Teil der jesidischen Bevölkerung ausmachten, wurden von den osmanischen Herrschern als potenzielle Bedrohung angesehen, was zu wiederholten Massakern führte. Dennoch gelang es den Jesiden, ihre religiösen Traditionen weitgehend zu bewahren, häufig in abgelegenen Gebirgstälern, die sie vor den großen militärischen Auseinandersetzungen in der Region schützten.
Im 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem Fall des Osmanischen Reiches, wurden die Jesiden immer wieder Opfer politischer Umwälzungen. Der Aufstieg des Arabismus, der Panarabismus und die fortwährende politische Instabilität im Nahen Osten führten zu einer erneuten Marginalisierung und Verfolgung. Die Jesiden blieben weitgehend isoliert und standen immer wieder unter dem Verdacht, mit den „Feinden“ der Region in Verbindung zu stehen.
Doch die brutalste Periode der Verfolgung begann im 21. Jahrhundert, als die Jesiden erneut Ziel eines gezielten Angriffs wurden – diesmal durch den sogenannten Islamischen Staat (ISIS).
Der Genozid von 2014: Die Brutalität der Verfolgung
Der Genozid von 2014 stellt einen erschütternden Höhepunkt in der Geschichte der Verfolgung der Jesiden dar. Der Aufstieg des sogenannten Islamischen Staates (ISIS) in der Region brachte die Jesiden in eine besonders prekäre Lage. Der ISIS betrachtete sie als „Ungläubige“ und eine „Gefahr für den Islam“, nicht zuletzt wegen ihrer abweichenden religiösen Praxis und ihrer Verehrung von Melek Taus, der im Extremismus fälschlicherweise als Satan angesehen wurde.
Im Sommer 2014, als der ISIS in Nordirak vorrückte, konzentrierte sich die Brutalität des Angriffs auf die Jesiden. Am 3. August 2014 fiel die Stadt Sinjar, das Zentrum der jesidischen Gemeinschaft, an den ISIS. Über 50.000 Jesiden flohen in die Berge, ohne Nahrung oder Wasser, während die islamistischen Kämpfer die Region systematisch überrannten. Tausende wurden vor ihren Augen ermordet, während andere von den Dschihadisten gefangen genommen wurden.
Die Brutalität des Angriffs ist kaum in Worte zu fassen. Männer wurden von ihren Familien getrennt, mit gezielten Schüssen exekutiert oder zum Kampf gezwungen. Frauen und Mädchen wurden als „Beutegut“ betrachtet: Sie wurden vergewaltigt, versklavt und in den Märkten des ISIS verkauft. Tausende von Frauen wurden gezwungen, sich ihren Peinigern zu unterwerfen, während viele verzweifelte Eltern sich gezwungen sahen, ihre Kinder vor einer noch grässlicheren Zukunft zu bewahren und sie zu töten, bevor sie in die Hände der Terroristen fielen.
Die brutale Vorgehensweise des ISIS gegen die Jesiden hatte methodischen Charakter. Der Angriff war keineswegs zufällig, sondern Teil eines groß angelegten Versuchs, eine ganze religiöse und ethnische Gruppe auszulöschen. Ganze Familien wurden in den Tod geschickt, Dörfer wurden vollständig zerstört, und es gab systematische Versklavung und Folter. Besonders erschütternd war die gezielte Zerstörung von heiligen Stätten und religiösen Symbolen der Jesiden. Diese barbarischen Taten führten dazu, dass der Genozid von 2014 von der UN als Völkermord anerkannt wurde.
Der Umfang des Leids war unvorstellbar. Laut Schätzungen der UN wurden mehr als 5.000 Jesiden getötet, und etwa 7.000 Frauen und Kinder wurden entführt. Tausende von Jesiden flüchteten in benachbarte kurdische Gebiete oder über die Grenze nach Syrien und Türkei. Doch auch in der Diaspora sind sie nicht sicher vor weiteren Angriffen und Repressionen.
Der Überlebensdruck auf die jesidische Gemeinschaft war immens: Selbst nach der militärischen Niederlage des ISIS in der Region ist die jesidische Gemeinschaft nach wie vor traumatisiert und lebt in einem Zustand der Unsicherheit. Viele Familien sind immer noch auf der Flucht oder leben in Lagern, während die zurückgelassenen Dörfer der Jesiden weitgehend zerstört sind.
Warum die Jesiden verfolgt werden: Religiöse und politische Spannungen
Die Ursachen für die Verfolgung der Jesiden sind vielfältig, aber im Wesentlichen lassen sie sich auf religiöse und politische Spannungen zurückführen. Ihre religiösen Überzeugungen und ihre ethnische Zugehörigkeit machten sie seit Jahrhunderten zu einem Ziel von Diskriminierung und Gewalt. Der Islam sieht die Jesiden als „Ungläubige“, insbesondere wegen ihrer Verehrung von Melek Taus, der von radikalen muslimischen Gruppen als Teufelsfigur betrachtet wird.
In politischer Hinsicht wurden die Jesiden auch als eine Bedrohung für die Stabilität des Nahen Ostens angesehen. In den kurdischen Gebieten, in denen sie traditionell leben, sind sie immer wieder ins Visier rivalisierender politischer Kräfte geraten, die die Jesiden als „Störfaktor“ in einem ohnehin angespannten geopolitischen Kontext wahrnahmen.
Zusätzlich trugen wirtschaftliche und soziale Marginalisierung sowie die geostrategische Bedeutung der Region dazu bei, dass die Jesiden in den letzten Jahrzehnten immer wieder Ziel von Angriffen wurden. Ihre Isolation in abgelegenen Gebirgstälern machte sie zu einer leichten Zielscheibe für radikale Gruppen, die in der Religion eine Rechtfertigung für ihre brutalen Aktionen fanden.
Fazit
Die Jesiden stehen seit Jahrhunderten unter der ständigen Bedrohung von Verfolgung und Auslöschung. Ihr Glaube, der tief in den Wurzeln der altmesopotamischen Religionen verwurzelt ist, hat sie zu einem Symbol für religiöse und ethnische Differenz in einer Region gemacht, die oft von Intoleranz geprägt ist. Besonders der Genozid von 2014 durch den ISIS zeigt auf erschütternde Weise, wie weit diese Intoleranz gehen kann.
Doch trotz der Brutalität der Verfolgung und der verheerenden Verluste hat die jesidische Gemeinschaft überlebt. Die weltweite Anerkennung des Völkermords und die humanitäre Unterstützung sind wichtige Schritte, aber die Jesiden stehen noch immer vor enormen Herausforderungen. Ihre Geschichte ist nicht nur die Geschichte einer Opfergruppe, sondern auch die Geschichte eines Widerstands – eines Widerstands gegen die gewaltsame Auslöschung einer alten und einzigartigen Kultur.
Beitragsbild: Von DFID – UK Department for International Development (picture: Rachel Unkovic/International Rescue Committee) – https://www.flickr.com/photos/dfid/14915495042/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35030087