Ein Streitgespräch über falsche Tugendhaftigkeit, Moral und Vernunft

Wir befinden uns in der Bibliothek eines Gelehrten. An den Wänden Regale voll mit Büchern, der Schreibtisch überquellend von Papieren, Zeitungen und ebenfalls Büchern. Heftiger Regen trommelt an die Fenster, aber das stört die beiden Herren nicht, die es sich nach einem gemeinsamen Mahl in den Ohrensesseln vor dem Kamin bequem gemacht haben. Eine Tasse dampfender Kaffee erwartet sie, genauso wie ein gutes Gespräch.

Thomas von Aquin:
Nun, mein lieber Kant, die Frage der Tugendhaftigkeit ist seit jeher ein zentrales Thema meiner Philosophie. Tugend ist für mich die Ausrichtung des Menschen auf das Gute, das in Gott verankert ist. Ein tugendhafter Mensch ist derjenige, der in Übereinstimmung mit der göttlichen Ordnung handelt. Das Streben nach Tugend, so wie ich es verstehe, erfordert eine harmonische Verbindung von Vernunft und moralischem Willen.

Immanuel Kant:
Interessant, Thomas, aber lassen Sie uns einen Moment innehalten. Sie sprechen von der Tugend im Zusammenhang mit der göttlichen Ordnung, doch ich stelle fest, dass für die Vernunft des Menschen ein solcher Ansatz problematisch sein könnte. Für mich, als Aufklärer, ist Tugend eine Aufgabe der Vernunft – sie ist nicht an die Gottesvorstellung gebunden, sondern vielmehr an den moralischen Gesetzgeber, den der Mensch in sich selbst findet. Die Frage lautet nicht, ob ein Mensch in Übereinstimmung mit einer göttlichen Ordnung handelt, sondern ob er mit seiner Handlung dem universellen moralischen Gesetz folgt – dem kategorischen Imperativ.

Thomas von Aquin:
Ah, Sie berufen sich also auf die Vernunft allein, Kant. Doch ist die Vernunft nicht selbst von einer höheren Weisheit abhängig, um wirklich das Gute zu erkennen? Ich glaube, die Tugend ist nicht nur ein bloßes Streben nach einem Prinzip, das der Mensch für sich selbst gesetzt hat, sondern eine Teilnahme an der göttlichen Weisheit. Ohne eine objektive moralische Orientierung außerhalb des Menschen selbst, wird der Mensch in seinem Streben nach Tugend nur ein blinder Sucher, der sich immer wieder verlaufen könnte.

Immanuel Kant:
Da mag Ihr Standpunkt wahr sein, dass die Vernunft in einem bestimmten Kontext erleuchtet werden könnte, aber ich beharre darauf, dass der Mensch, in seiner Fähigkeit zur autonomen Vernunft, ein moralisches Gesetz für sich selbst setzt, das universell gilt. Die Tugend, wie ich sie verstehe, ist die Entfaltung dieses Gesetzes, das sich nicht aus äußeren Instanzen ableitet. Die wahre Tugend ist die moralische Selbstgesetzgebung, das Handeln aus Pflicht und nicht aus Neigung oder gar aus Angst vor göttlicher Vergeltung.

Thomas von Aquin:
Ah, Sie sprechen von Pflicht. Doch auch hier könnte ich einwenden, dass die bloße Pflicht zur Tugend, die Sie beschreiben, leicht zu einem leeren Mechanismus verkommen könnte. Es fehlt dann die Liebe zum Guten selbst, die für mich die Grundlage der Tugend ist. Ein Mensch könnte aus Pflicht handeln, aber ohne die Liebe zu Gott und dem Guten, wird er nie zu wahrer Tugend kommen. Und wie sieht es mit der Gefahr der falschen Tugendhaftigkeit aus? Ein Mensch könnte sich in seinen eigenen Augen für tugendhaft halten, weil er sich strengen moralischen Regeln unterwirft, aber ohne echte Hingabe an das Gute bleibt sein Handeln hohl und oberflächlich.

Immanuel Kant:
Das ist, glaube ich, ein wirklich faszinierender Punkt. Aber erlauben Sie mir, auch dies zu entkräften. Die Gefahr der falschen Tugendhaftigkeit, wie Sie sie nennen, entsteht aus einer missverstandenen Motivation. Der moralische Wert einer Handlung liegt nicht in den Gefühlen oder der äußeren Erscheinung der Tugend, sondern in der Absicht, aus Pflicht zu handeln. Jemand könnte äußerlich sehr tugendhaft wirken – etwa, indem er den Armen hilft oder in der Gesellschaft wohlgefällig ist –, aber wenn dies nicht aus dem reinen Gehorsam gegenüber dem moralischen Gesetz geschieht, sondern etwa aus egoistischen Motiven oder aus dem Wunsch, Anerkennung zu erhalten, dann ist es keine wahre Tugend. Ein Mensch kann sich täuschen und eine Fassade der Tugend aufbauen, aber die wahre Tugend ist die, die aus der Pflicht und aus der Achtung vor dem moralischen Gesetz entspringt.

Thomas von Aquin:
Ein interessantes Argument, Kant. Doch was ist, wenn jemand seine Pflicht zwar erfüllt, aber ohne das, was wir als „reine“ Tugend ansehen würden? Nehmen wir an, ein Mann hilft einem anderen, weil er glaubt, er würde dadurch selbst in den Himmel kommen – und dies ist der eigentliche Beweggrund. In einem solchen Fall könnte man sagen, dass er zwar eine gute Tat vollbringt, aber seine Tugendhaftigkeit ist aus einem egoistischen Antrieb heraus motiviert. Die wahre Tugend würde für mich bedeuten, dass die Handlung selbst – das Helfen – aus der Liebe zu Gott und dem Guten vollzogen wird, ohne dass der Mensch an sich selbst denkt. Ein hoher moralischer Wert entsteht durch die Intention, nicht nur durch die Handlung an sich.

Immanuel Kant:
Ah, aber sehen Sie, Thomas, genau hier komme ich ins Spiel. Die Gefahr der falschen Tugendhaftigkeit tritt nicht aufgrund des äußeren Ergebnisses einer Handlung auf, sondern aufgrund der inneren Motivation, die der Handlung zugrunde liegt. Wenn ein Mensch eine gute Tat nur aus egoistischen Gründen oder aus der Hoffnung auf eine Belohnung tut, dann hat er die Pflicht, aus reinem Gewissen zu handeln, verfehlt. Doch wenn er aus moralischer Pflicht handelt – ohne die Aussicht auf Belohnung oder Anerkennung – dann ist die Handlung wahrhaftig, auch wenn der Mensch sich dabei selbst nicht in einem göttlichen Licht sieht. Es ist die Motivation aus Pflicht, die den moralischen Wert der Handlung definiert. Und nur auf dieser Grundlage kann man sagen, dass der Mensch die wahre Tugend erreicht hat.

Thomas von Aquin:
Das ist eine interessante Perspektive. Doch mein Einwand bleibt: Ein bloßer Mechanismus der Pflicht könnte das wahre Streben nach Tugend entleeren. Die Tugend ist für mich nicht nur das Festhalten an einer Regel, sondern auch das Streben nach einer höheren Erfüllung, nach einer wahren Vereinigung mit dem Guten. Ein Mensch, der nur aus Pflicht handelt, mag zwar moralisch korrekt sein, aber es fehlt ihm die Freude am Guten, die uns letztlich zur wahren Heiligkeit führt.

Immanuel Kant:
Das mag wahr sein, Thomas, aber die Freude am Guten – wie Sie sie beschreiben – kann in der Tat aus der Erfüllung der moralischen Pflicht hervorgehen. Vielleicht ist es nur eine andere Form der „Freude“, die sich im reinen Gewissen manifestiert, und nicht in einem irdischen Gewinn. Die wahre Tugend mag in der Pflicht bestehen, aber der Weg, diesen Zustand zu erreichen, kann auch eine Quelle tiefer innerer Erfüllung sein.

Thomas von Aquin:
Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo zwischen uns. Denn ohne die Liebe zum Guten wird die Tugend schnell zu einem kalten Dogma, und ohne die Pflicht, verliert der Mensch sich in seinen eigenen Neigungen. Die wahre Tugend könnte in der Balance zwischen diesen beiden Aspekten liegen: der Liebe zum Guten und der Achtung vor der moralischen Ordnung.

Immanuel Kant:
Da stimme ich Ihnen zu, Thomas. Wahre Tugend erfordert sowohl die innere Hingabe als auch das Bewusstsein, dass wir uns selbst einem universellen moralischen Gesetz unterwerfen müssen. Vielleicht ist es nicht nur ein Weg, sondern ein Ziel, das wir beide suchen – einer im Einklang mit Gott, der andere im Einklang mit der universellen Vernunft.

Die beiden Philosophen nicken einander zustimmend zu, ihre Diskussion endet in einem Moment der stillen Einigung über die Komplexität der Tugend und der Gefahr, die falsche Tugend zu leben.

2 Gedanken zu “Ein Streitgespräch über falsche Tugendhaftigkeit, Moral und Vernunft

  1. In unserer heutigen Zeit sehen längst viele Menschen im „Wort Gottes“ gar keine „Tugendhaftigkeit“ (aka moralischen Kompass) mehr, dem zu folgen eines freien und autonomen Menschen würdig wäre. Was Thomas‘ Position – bei aller Ernsthaftigkeit und gutem Willen auf seiner Seite – als letztlich nicht akzetables Autoritätsargument entlarvt.

    Und Kants Position des moralischen Kompasses im Menschen, den er finden und dem er folgen soll? Eine schöne Vorstellung, die den Anspruch, autonom als freie Persönlichkeit den richtigen Weg zu finden, unterstreicht. Aber seine Position hat längst eine moderne Entsprechung gefunden: in der Erkenntnis, dass tugendhaftes (d.h. nicht allein hedonistisches) Handeln evolutionär bedingt ist. Diejenigen Gruppen, die einen Zusammenhalt in der Gemeinschaft pflegten, haben sich evolutionär durchgesetzt.

    Wie Anne Güntert schon ganz richtig sagte: Empathie ist das Schlüsselwort. Und es wird Elon Musk nicht gelingen, sie zu entwerten und damit die Menschen zu reinen Nützlichkeitsobjekten zu degradieren.

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