Die ganz gewöhnliche Nachtseite: Vom Bösen in uns

Es gibt Themen, die uns nicht verlassen – nicht, weil sie sich aufdrängen, sondern weil sie in uns wohnen. Das Böse ist eines davon. Nicht das plakativ Dämonische, nicht der Hollywood-Schurke im schwarzen Umhang, sondern das Unheimliche im Banalen, das Vertraute, das uns ins Gesicht sieht – im Spiegel.

Ich schreibe diesen Text in einem hellen Zimmer. Es riecht nach Kaffee, irgendwo draußen spielen Kinder. Ich bin umgeben von Büchern. Und doch denke ich an Genozide, an Folterkeller, an das Foltern mit Worten, das Ausschließen, das Vergessen. Und frage mich: Wie kann das sein? Wie kann in einer Welt, die so viele Verse kennt, so viel Verdammung wachsen?

Das Böse hat ein menschliches Gesicht

Hannah Arendt hat es am klarsten gesehen. Als sie 1961 dem Prozess gegen Adolf Eichmann beiwohnte – einen Mann, der Hunderttausende in den Tod geschickt hatte –, erwartete sie das Monster. Sie fand: den Bürokraten. Korrekt, höflich, wenig originell. Er berief sich auf Befehle, auf Abläufe, auf das Funktionieren.

Arendt prägte den berüchtigten Ausdruck von der „Banalität des Bösen“. Und mit einem Mal war das Grauen nicht mehr fern – es saß am Schreibtisch, in gestärktem Hemd, mit Aktenmappe. Das Böse, so schien es, war keine Ausnahme mehr, sondern eine Möglichkeit im Menschen.

Diese Entdeckung ist nichts weniger als ein anthropologischer Schock. Denn wenn das Böse nicht „anderswo“ ist, sondern in uns, in unseren Routinen, in unserer Bereitschaft zur Unterwerfung – dann sind nicht die Monster gefährlich, sondern die Mitläufer. Und wir selbst.

Die Psychologie des Dunklen

Was geschieht, wenn Menschen böse handeln? Man denkt an Sadismus, an psychische Störungen. Doch viel beunruhigender ist: Die meisten Täter sind nicht krank. Sie sind durchschnittlich. Sozialisiert, verheiratet, freundlich zu Tieren. Und sie foltern. Sie schießen. Sie verleumden.

Stanley Milgrams berühmtes Experiment aus den 1960er Jahren hat das auf die Spitze getrieben. Probanden sollten – angeblich – anderen Menschen Elektroschocks verabreichen, wenn diese Fehler machten. Zwei Drittel der Teilnehmer gingen so weit, dass sie tödliche Stromstöße verabreicht hätten – auf Anweisung, in einem Labor, für ein Experiment.

Das Ergebnis war kein Ausreißer, sondern eine Bestätigung: Der Mensch gehorcht. Und im Gehorsam schmilzt das Gewissen wie Butter unter Hitze. Verantwortung wird abgegeben wie ein Mantel an der Garderobe. Es ist nicht mehr „ich“, es ist „die Vorschrift“.

Zygmunt Bauman hat diese Mechanik auf den Holocaust angewandt. Seine erschütternde These: Nicht das Versagen der Zivilisation führte zum Völkermord – sondern ihre Effizienz. Die Industrie des Todes war ein rationales System. Und Menschen wie Eichmann waren seine Funktionäre.

Die Soziologie des Bösen: Wenn Strukturen töten

Was wir „das Böse“ nennen, hat oft systemische Ursachen. Es wächst in der Struktur, in der Sprache, in den „Normalitäten“ einer Gesellschaft. Denken wir an die Apartheid, an Kolonialismus, an rassistische Polizeigewalt. Das Böse ist nicht nur ein Akt – es ist ein Milieu.

Ein Kind, das in einem autoritären Regime aufwächst, lernt früh: Loyalität zählt mehr als Gerechtigkeit. Ein Jugendlicher in einer verarmten Vorstadt, ohne Perspektive, kann empfänglich werden für Ideologien, die Stärke und Zugehörigkeit versprechen. Das Böse beginnt dort, wo das Empathievermögen versiegt – oft aus Angst, manchmal aus Gewohnheit.

Und: Das Böse ist anschlussfähig. Es kann sich links oder rechts kleiden, fromm oder zynisch sprechen, sich in Märkten, in Schulen, in Familien einnisten. Es kommt mit einem Lächeln, es zitiert Kant, es baut Kindergärten.

Die Normalität des Grauens

Wer heute einen Täter interviewt – sei es ein Kriegsverbrecher oder ein Mobber – trifft selten auf das, was man erwartet. Kein Zähneknirschen, keine diabolische Aura. Oft spricht dort ein Mensch, der sich selbst für unschuldig hält. Oder für einen Helden.

Das ist das Beunruhigendste: Die Täter sehen sich oft als Gute. Sie rationalisieren, sie leugnen, sie verschieben die Schuld. Das eigene Handeln erscheint im Kontext immer notwendig. Und das Opfer? Wird entmenschlicht.

Diese Entmenschlichung ist ein Schlüsselmechanismus. Sie macht aus Individuen Kategorien: „die Juden“, „die Araber“, „die Untermenschen“, „die Gutmenschen“. In diesem Moment stirbt das Gegenüber als Person – und wird zur Projektionsfläche.

Das Böse im Alltäglichen

Man muss nicht in den Sudan oder nach Srebrenica blicken, um das Böse zu finden. Es ist da, wenn wir wegsehen. Wenn wir mobben, ohne es so zu nennen. Wenn wir lachen, weil jemand fällt. Wenn wir von „denen da oben“ sprechen – oder von „denen da unten“.

In der Ehe, im Betrieb, auf Social Media: Das Böse äußert sich oft nicht in Taten, sondern in Haltung. In einer Härte des Urteils, in einem Zynismus, der Empathie verächtlich macht. In einem Weltbild, das Rechtfertigung sucht, statt Verantwortung zu übernehmen.

Roger Willemsen schrieb einmal, die Kultur sei „die Differenz zwischen der Welt, wie sie ist, und wie sie sein könnte“. Vielleicht ist das Böse genau das: das freiwillige Verschließen dieser Differenz. Die Weigerung, die bessere Möglichkeit zu wählen – obwohl wir könnten.

Und nun?

Vielleicht ist das Böse kein dunkler Ort, sondern eine Lichtverweigerung. Kein Dämon, sondern ein leerer Stuhl am Tisch der Moral. Wenn wir dem Bösen entgegentreten wollen, dürfen wir nicht auf Monster warten. Wir müssen uns selbst befragen. Unsere Gleichgültigkeit. Unsere Ausreden. Unsere Komfortzonen.

Die wichtigste ethische Frage ist nicht: Was tust du, wenn du gezwungen wirst? Sondern: Was tust du, wenn du wählen kannst?

Ein Gedanke zu “Die ganz gewöhnliche Nachtseite: Vom Bösen in uns

  1. Das Böse? Nein, danke – ich bin schon voll mit Terminen.

    Man könnte meinen, das Böse trüge schwarze Kutten, flüstere in lateinischen Flüchen und opfere Ziegen im Vollmond. Die Wahrheit ist wesentlich banaler – und leider wesentlich unangenehmer: Es trägt Funktionskleidung, zahlt pünktlich seine Steuern und bringt den Müll raus. Der Beitrag von Onkel Michael bringt genau das zur Sprache, und wer dabei nicht leise schaudert, hat vermutlich schon längst innerlich resigniert.

    Der Horror kommt nicht als Gewitter – sondern als Excel-Tabelle.

    Wenn man sich fragt, woher all das Grauen unserer Zeit stammt, könnte man mit ein wenig Menschenkenntnis schnell auf eine erschütternde Antwort stoßen: Aus der Mitte der Gesellschaft. Aus der kleinen Bürokratie der Herzlosigkeit, aus der alltagstauglichen Verantwortungslosigkeit, die man heute als Compliance oder Verfahrenstreue verkauft. Es ist eben einfacher, ein Zahnrad zu sein, als sich dem Getriebe in den Weg zu stellen.

    Gehorsam – die Superkraft der moralisch Ermüdeten.

    Was als Tugend verkauft wird – Ordnung, Disziplin, Struktur – ist oft nur die Verpackung für ein bequemes Gewissen. Wer mitmacht, hat wenigstens keine Schuld. Oder? Dass ausgerechnet dieser Kadavergehorsam immer wieder Geschichte schreibt (und zwar keine schöne), scheint uns nur dann zu beunruhigen, wenn es andere betrifft. Am besten möglichst weit weg, in Uniform, mit Akzent und Geschichtsunterricht.

    Das Böse ist kein Akt, sondern ein System mit Pausenregelung.

    Natürlich empört man sich medienwirksam über große Katastrophen, während man gleichzeitig stillschweigend zur Produktion beiträgt. Denn das Böse heute braucht keine Willenskraft – nur stilles Mitlaufen. Das ist das eigentlich Perfide daran: Kein Dämon nötig, nur ein bisschen Bequemlichkeit und moralische Müdigkeit.

    Kurz: Das Böse ist nichts Besonderes – und genau das ist das Problem.

    Wer diesen Gedanken für übertrieben hält, dem empfehle ich etwas Seelenhygiene durch Lektüre:

    GRIN Philosophische Klassiker über Das Böse – eine Textsammlung für alle, die sich der Tatsache stellen wollen, dass Kant zwar nett war, aber im Zweifel auch nur ein Systemkind.Link bei Thalia.at und anderen

    Was ist Das Böse? – ein zugänglicher Einstieg in die moralphilosophischen Abgründe, die wir lieber mit Netflix übertünchen.Link bei LIBRO und weiteren Händlern

    Fazit: Wer sich fragt, wie das Böse so alltäglich werden konnte, dem sei geantwortet: Es hat einfach eine gute Work-Life-Balance gefunden.

    Gut gebrüllt, Löwe. Ähm, Michael 🙂

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