Die „Feuernacht“ vom 11. auf den 12. Juni 1961 in Südtirol und der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS): Historischer Kontext, Ursachen und Folgen eines politischen Umbruchs

Die sogenannte „Feuernacht“ vom 11. auf den 12. Juni 1961 markiert einen Wendepunkt im Südtirol-Konflikt zwischen der deutschsprachigen Minderheit und dem italienischen Staat. In jener Nacht verübte der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) mehr als 40 koordinierte Sprengstoffanschläge auf Infrastruktureinrichtungen in Südtirol, insbesondere Strommasten der italienischen Staatsgesellschaft ENEL. Ziel war es, auf die systematische Italianisierungspolitik aufmerksam zu machen und den Autonomiekampf zu radikalisieren. Der vorliegende Artikel analysiert die historischen Hintergründe, die Entstehung und Struktur des BAS, den Ablauf und die Symbolik der Feuernacht sowie die innen- und außenpolitischen Reaktionen und Langzeitfolgen.

1. Historischer Hintergrund: Südtirol als Konfliktregion

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Südtirol 1919 im Vertrag von Saint-Germain von Österreich an Italien abgetreten. In der Folge setzte das faschistische Regime unter Benito Mussolini eine umfassende Italianisierungspolitik durch, die die kulturelle, sprachliche und wirtschaftliche Identität der deutschsprachigen Südtiroler Bevölkerung systematisch unterdrückte. Dazu zählten u.a. das Verbot der deutschen Sprache im öffentlichen Raum, die Umsiedlungspolitik im Rahmen des „Optionenabkommens“ 1939 und die gezielte Ansiedlung italienischer Arbeitskräfte.

Trotz des Pariser Vertrages von 1946, in dem Italien gegenüber Österreich Autonomie für Südtirol versprach, blieb die Umsetzung aus. Die 1948 eingerichtete Autonome Region Trentino-Südtirol wurde faktisch vom italienisch dominierten Trentino kontrolliert, was zu wachsendem Unmut in der Südtiroler Bevölkerung führte.

2. Der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS): Entstehung und Ziele

Der BAS entstand 1957 als geheime Widerstandsgruppe, maßgeblich gegründet von Sepp Kerschbaumer, einem ehemaligen SVP-Mitglied, der die offizielle Politik der Diplomatie für zu ineffizient hielt. Der BAS verstand sich als patriotische Bewegung, die mit gewaltlosen Mitteln begann, später jedoch Sabotageakte in sein Repertoire aufnahm. Ziel war die Wiedererlangung einer echten Autonomie oder – in Teilen des BAS – sogar die Rückkehr Südtirols zu Österreich.

Die Organisation war streng hierarchisch aufgebaut und operierte konspirativ. Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich zunächst auf die Verbreitung von Flugblättern und Propaganda, bevor sie in den frühen 1960er Jahren zur Sabotage überging. Unterstützt wurde der BAS in Teilen von Sympathisanten aus Österreich und Deutschland.

3. Die „Feuernacht“: Ablauf, Organisation und Bedeutung

Die sogenannte „Feuernacht“ war der Höhepunkt einer monatelang vorbereiteten Sabotageaktion des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS), bei der vom 11. auf den 12. Juni 1961 insgesamt 37 bis 42 Sprengstoffanschläge (die Angaben schwanken je nach Quelle) verübt wurden. Die Anschläge richteten sich primär gegen Hochspannungsleitungen der italienischen Elektrizitätsgesellschaft ENEL sowie gegen andere staatliche Symbole. Die Auswahl der Ziele war keineswegs zufällig, sondern folgte einer klaren politischen und symbolischen Logik:

  • Technische Ziele: Durch das Sprengen von Hochspannungsmasten sollte die Stromversorgung in Südtirol – insbesondere in der Landeshauptstadt Bozen und in mehreren Talregionen – empfindlich gestört werden. Die Elektrizitätsversorgung galt als Symbol der technischen Modernisierung und des wirtschaftlichen Einflusses des italienischen Staates.
  • Symbolische Wirkung: Die Zerstörung von Objekten der Infrastruktur hatte weniger eine funktionale als eine symbolisch-propagandistische Dimension. Der Stromausfall in weiten Teilen Südtirols sollte die Präsenz des italienischen Staates „sichtbar“ lahmlegen.
  • Zeitpunkt: Die Wahl des Datums – der Vorabend des 150. Jahrestags des Tiroler Freiheitskampfes von 1809 – war bewusst gewählt, um eine historische Verbindung zwischen Andreas Hofer und dem heutigen Südtiroler Widerstand herzustellen. Die „Feuernacht“ sollte als patriotischer Akt verstanden werden, nicht als krimineller Akt.

Die Aktion war militärisch minutiös geplant. Kleine Zellen von zwei bis vier Personen operierten im ganzen Land, wobei sie zumeist nachts zu abgelegenen Orten aufbrachen, Sprengladungen anbrachten und sich dann wieder zurückzogen. Als Sprengmittel diente teils aus Österreich eingeschleuster Sprengstoff – etwa aus Steinbrüchen – sowie selbstgefertigte Zünder.

Entscheidend war: Die Aktivisten des BAS achteten streng darauf, dass keine Menschen zu Schaden kamen. Dies geschah aus ethischer Überzeugung – viele Mitglieder waren tief religiös geprägt – und aus strategischem Kalkül, da man die internationale Sympathie nicht durch Gewalt gegen Personen verspielen wollte. Dennoch war allen Beteiligten bewusst, dass man eine Schwelle überschritten hatte: Von zivilem Ungehorsam hin zu politisch motivierter Sachbeschädigung mit Sprengstoff – ein Schritt, der in Italien sofort als terroristisch eingeordnet wurde.

4. Reaktionen des italienischen Staates und der internationalen Gemeinschaft

4.1. Italienische Staatsmacht: Militarisierung, Repression und Ausnahmezustand

Die Reaktion der italienischen Regierung fiel hart, beinahe panisch aus. Noch in der Nacht der Anschläge wurde ein militärischer Krisenstab in Bozen eingerichtet. Der Innenminister Paolo Emilio Taviani sprach von einem „terroristischen Angriff auf die Einheit der Nation“. Innerhalb weniger Tage wurden rund 17.000 zusätzliche Sicherheitskräfte – darunter Carabinieri, Polizei und Militär – in die Region verlegt. Südtirol wurde faktisch unter eine Art inoffiziellen Ausnahmezustand gestellt.

Zahlreiche Südtiroler, darunter auch führende Mitglieder der Südtiroler Volkspartei (SVP), wurden verhört, teilweise willkürlich festgenommen. Besonders drastisch waren die Maßnahmen gegen mutmaßliche Mitglieder des BAS:

  • Foltervorwürfe: In mehreren Fällen – etwa bei den Verhören von Sepp Kerschbaumer oder Heinrich Oberleiter – wurden Misshandlungen und Folter durch italienische Sicherheitskräfte dokumentiert bzw. später glaubhaft gemacht. Internationale Menschenrechtsorganisationen äußerten Kritik.
  • Sondergerichte: Es kam zu Schnellverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Viele Angeklagte erhielten langjährige Haftstrafen, einige verbrachten Jahre in Einzelhaft oder wurden in Süditalien in abgelegene Gefängnisse verlegt.
  • Staatliche Propaganda: Die italienische Presse stellte die Feuernacht fast einhellig als „Terroranschlag“ dar und schürte anti-deutsche Ressentiments. Dies führte in manchen italienischen Kreisen zu Forderungen nach einer völligen Aufhebung der Südtirol-Autonomie.

Zugleich wurde das Netz an Überwachung und Spitzeldiensten in Südtirol massiv ausgebaut. Auch viele unbeteiligte Zivilpersonen gerieten unter Generalverdacht. Die Repression wirkte kurzfristig stabilisierend für den italienischen Staat, langfristig jedoch kontraproduktiv: Das Misstrauen der deutschsprachigen Südtiroler Bevölkerung gegenüber Rom wuchs erheblich.

4.2. Internationale Reaktionen: Österreich, UNO und Diplomatie

Besonders deutlich fielen die Reaktionen aus Österreich aus. Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Alfons Gorbach und Außenminister Bruno Kreisky verurteilte die Gewaltakte des BAS nicht ausdrücklich, betonte jedoch das Unverständnis für die fortdauernde italienische Repressionspolitik. Österreich nutzte die Situation, um international stärker auf die ungelöste Südtirolfrage hinzuweisen.

Wichtige Schritte in der Folge:

  • UNO-Initiative: Bereits 1960 hatte Österreich den Südtirolkonflikt bei den Vereinten Nationen thematisiert. Nach der Feuernacht intensivierte Wien seine diplomatischen Bemühungen, was 1961 zur ersten offiziellen Debatte über Südtirol im Rahmen der UNO führte. Zwar wurde keine bindende Resolution verabschiedet, doch das Thema war nun international verankert.
  • Öffentliche Meinung in Deutschland: In der Bundesrepublik Deutschland äußerten konservative Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung Verständnis für die Beweggründe des BAS. In Teilen der Bevölkerung wurde Südtirol als „letzter unerlöster Teil des Deutschen Reiches“ romantisiert. Gleichzeitig warnte man jedoch vor einer Radikalisierung.
  • Italienische Isolierung: Innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft geriet Italien unter Druck, vor allem weil es gleichzeitig Gründungsmitglied der EWG war und sich zur Einhaltung europäischer Grundrechte verpflichtet hatte.

Die internationale Aufmerksamkeit zwang Italien letztlich zur politischen Bewegung: In den späten 1960er Jahren nahm man unter Vermittlung der UNO und bilateraler Kommissionen Gespräche mit Österreich und der Südtiroler Landespolitik auf, was schließlich zum sogenannten „Südtirol-Paket“ und später zum Zweiten Autonomiestatut von 1972 führte.

5. Folgen und Bewertung

Die Feuernacht war ein Katalysator für den politischen Umdenkprozess. Obwohl der italienische Staat zunächst mit Repression reagierte, war die internationale Aufmerksamkeit so groß, dass ein neuer politischer Lösungsweg eingeschlagen werden musste. In den 1970er Jahren wurde schließlich das sogenannte „Zweite Autonomiestatut“ ausgearbeitet, das Südtirol bis heute weitreichende Selbstverwaltungsrechte garantiert.

Die Rolle des BAS bleibt ambivalent: Während viele Südtiroler ihn als Freiheitsbewegung sehen, wird er in Italien teilweise als terroristische Organisation betrachtet. Die Feuernacht gilt dennoch – selbst in moderaten politischen Kreisen – als notwendiger Impuls für die Lösung des jahrzehntelangen Konflikts.

6. Schlussbetrachtung

Die Feuernacht vom Juni 1961 und der Befreiungsausschuss Südtirol stellen ein zentrales Kapitel der neueren Tiroler Geschichte dar. Sie verdeutlichen, wie asymmetrische Konflikte zwischen einer staatlichen Ordnungsmacht und einer regionalen Minderheit durch symbolische Gewaltakte eskalieren können – aber auch, wie daraus politische Lösungen hervorgehen können. Der Konflikt um Südtirol wurde letztlich nicht durch Gewalt, sondern durch Diplomatie, internationale Vermittlung und institutionelle Reformen gelöst. Die Lehren aus dieser Entwicklung bleiben bis heute relevant – auch für andere Minderheitenkonflikte in Europa.

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