Es ist ja nicht so, dass ich was gegen Moral hätte. Ich habe sogar ein Paar davon zu Hause. Stehen schön nebeneinander im Bücherregal, direkt neben „Gebrauchsanweisung für Irland“ und dem Duden von 1984, wo das Wort „woke“ noch hieß: wurde unsanft geweckt, wahrscheinlich von einem schlecht gelaunten Sozialkundelehrer.
Aber was mir in letzter Zeit auffällt – und ich bin da nicht allein, hab mit dem alten Kruse vom Kiosk drüber gesprochen, der kriegt ja auch alles mit, was sich an menschlichem Restmaterial so in den Tag schleppt –, ist Folgendes: Je weniger einer hat, desto mehr hält er sich für den moralischen Endgegner der Gesellschaft.
Da steht dann so ein blasser Hans-Guck-in-die-Luft mit Rucksack voller Selbstmitleid und Misstrauen gegenüber allem, was auch nur entfernt nach Leben riecht, und erklärt dir, warum du mit deiner Wortwahl „toxische Narrative reproduzierst“. Und das, obwohl du nur gefragt hast, ob er noch Senf auf die Wurst will. „Sprache ist Macht“, sagt er dann. Und ich denke: „Bruder, du hast nicht mal Kontrolle über deine Gesichtsmuskulatur, aber willst mir was über Macht erzählen?“
Früher – und das ist jetzt kein nostalgischer Quatsch, sondern einfach ein bisschen Lebenserfahrung mit Patina – früher waren die Leute mit wenig im Portemonnaie oft die mit dem größten Herz. Die haben dir ihr letztes Bier gegeben und einen Platz auf der Parkbank freigeräumt. Heute geben sie dir stattdessen ungefragt eine Vorlesung in Ethik und ein schlechtes Gewissen gratis obendrauf.
Ich frage mich dann manchmal, was da schiefgelaufen ist. Haben wir als Gesellschaft den Leuten so oft gesagt, dass sie nichts wert sind, dass sie sich jetzt an der Moral hochziehen wie ein Kind am Tischrand? So nach dem Motto: Wenn ich schon nix habe, dann hab ich wenigstens Recht. Und wenn ich schon kein Recht hab, dann hab ich wenigstens die richtige Haltung.
Was mich daran so nervt, ist nicht mal das Moralisieren an sich. Ich bin ja auch nicht völlig schamfrei. Ich trenne Müll (meistens), kaufe Eier vom Bauern (wenn ich dran denke) und spende im Winter für Obdachlose (besonders dann, wenn mir gerade warm ums Herz ist).
Nein, was mich nervt, ist dieses… Fuchteln. Dieses ständige Wedeln mit dem moralischen Zeigefinger, als wäre man ein Verkehrspolizist in der Fußgängerzone der Gefühle.
Und dann noch dieses selbstgerechte Grinsen, wenn sie jemanden beim „Fehltritt“ erwischt haben. „Ah-ha!“, rufen sie innerlich, „Ich hab dich beim Denken erwischt!“
Ja mein Gott, Entschuldigung, dass ich ein Mensch bin. Kein durchoptimierter Weltverbesserungsautomat mit eingebautem Faktencheck und Gender-Update.
Weißt du, was mein Opa immer gesagt hat?
„Wer nix hat, muss wenigstens Anstand haben.“
Heute würde er wahrscheinlich sagen:
„Wer nix hat, hat wenigstens Twitter.“
Und damit ist auch schon alles gesagt.
Außer vielleicht das hier: Wenn deine ganze Persönlichkeit nur daraus besteht, dass du anderen aufzeigst, wie falsch sie leben – dann lebst du selbst auch nicht richtig. Dann bist du kein Vorbild, sondern eine Warnung. Eine moralinsäuerliche, grundtraurige Warnung in Menschengestalt.
Aber hey – Hauptsache, du hast recht.
Oder wenigstens das letzte Wort.