Einleitung
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Eugenik und Euthanasieprogrammen ist häufig stark auf das nationalsozialistische Deutschland konzentriert. Dabei wird oft übersehen, dass die Vereinigten Staaten im frühen 20. Jahrhundert selbst eine zentrale Rolle in der internationalen Eugenikbewegung spielten. Zwar existierten in den USA keine staatlich organisierten Euthanasieprogramme im Sinne der nationalsozialistischen „Aktion T4“, jedoch wurden umfangreiche Zwangssterilisationen durchgeführt, die auf eugenischen Ideologien basierten. Dieser Artikel analysiert die Entwicklung dieser Praktiken in den USA, ihre ideologischen Grundlagen und ihren transatlantischen Einfluss.
1. Die Eugenikbewegung in den USA
1.1 Ursprünge, Ideologie und gesellschaftlicher Kontext
Die US-amerikanische Eugenikbewegung entwickelte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert im Spannungsfeld von Darwinismus, Sozialreformbewegungen und dem aufkommenden Interesse an Vererbungslehre. Der Begriff „Eugenik“ wurde 1883 von dem britischen Anthropologen Francis Galton, einem Cousin Charles Darwins, geprägt. Seine Idee: gesellschaftlichen Fortschritt durch gezielte Förderung „guter Gene“ (positive Eugenik) und Unterbindung der Fortpflanzung von „minderwertigen“ Menschen (negative Eugenik).
In den USA fand diese Idee auf fruchtbaren Boden. Der rasante industrielle Wandel, die Urbanisierung und die Angst vor sozialem Verfall führten dazu, dass die Eugenikbewegung in der Oberschicht, bei Wissenschaftlern und Sozialpolitikern großen Anklang fand. Sie wurde zunehmend als wissenschaftlich legitimiertes Instrument zur Lösung sozialer Probleme betrachtet.
Eugenik war nicht nur ein Thema medizinischer oder biologischer Fachdiskussionen, sondern wurde aktiv von Politik, Bildungsinstitutionen, Kirchen und Medien unterstützt. Die Rhetorik des „menschlichen Fortschritts“ maskierte dabei oft tiefe rassistische, klassistische und ableistische Haltungen.
1.2 Institutionen und prominente Akteure
Die führende Institution der US-amerikanischen Eugenikbewegung war das Eugenics Record Office (ERO), das 1910 in Cold Spring Harbor, New York, gegründet wurde. Es wurde vom renommierten Biologen Charles Benedict Davenport geleitet, einem der einflussreichsten Eugeniker seiner Zeit. Finanziert wurde das ERO unter anderem durch wohlhabende Familien wie die Carnegies und Rockefellers, was die gesellschaftliche Akzeptanz weiter förderte.
Ein weiterer zentraler Akteur war Harry H. Laughlin, der wissenschaftlicher Direktor des ERO war und zu einem der wichtigsten Propagandisten der Zwangssterilisation wurde. Laughlin entwickelte Modelle für „erblich minderwertige“ Bevölkerungsgruppen und erarbeitete Gesetzesvorlagen für Sterilisationsgesetze, die in vielen Bundesstaaten übernommen wurden. [1]
Das ERO sammelte Daten zu Familienstammbäumen, Krankheitsbildern und „Abnormalitäten“ – häufig auf Grundlage von zweifelhaften oder rassistisch voreingenommenen Kriterien. Diese Informationen dienten als pseudowissenschaftliche Grundlage für die Durchführung staatlicher Maßnahmen gegen sogenannte „Defektive“.
1.3 Gesetzgebung zur Zwangssterilisation
Die gesetzliche Umsetzung eugenischer Ideen begann früh: Bereits 1907 verabschiedete der Bundesstaat Indiana das weltweit erste Sterilisationsgesetz für Insassen psychiatrischer Einrichtungen. In den folgenden Jahrzehnten folgten über 30 weitere US-Bundesstaaten mit ähnlichen Gesetzen.
Diese Gesetze zielten auf folgende Gruppen ab:
- Menschen mit geistiger Behinderung („feebleminded“),
- Menschen mit psychischen Erkrankungen,
- Epileptiker,
- Alkoholiker,
- Kriminelle,
- vermeintlich „sexuell promiskuitive“ Frauen,
- arme und arbeitsunfähige Personen.
Bis in die 1970er Jahre wurden auf dieser Basis etwa 60.000 Menschen zwangsweise sterilisiert – darunter auch viele Minderjährige und Menschen ohne gerichtliche Überprüfung oder Zustimmung. [2]
1.4 Der Fall „Buck v. Bell“ (1927)
Ein besonders folgenreiches juristisches Ereignis war das Urteil im Fall Buck v. Bell durch den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Die Klägerin, Carrie Buck, war eine junge Frau aus Virginia, die nach Auffassung von Behörden „geistesschwach“ sei – wie auch ihre Mutter und ihre Tochter. Auf dieser Grundlage sollte sie zwangssterilisiert werden.
Der Supreme Court entschied mit einer Mehrheit von 8 zu 1, dass Zwangssterilisation im öffentlichen Interesse verfassungsgemäß sei. Richter Oliver Wendell Holmes Jr. formulierte in seinem berüchtigten Urteil:
„It is better for all the world, if instead of waiting to execute degenerate offspring for crime, or to let them starve for their imbecility, society can prevent those who are manifestly unfit from continuing their kind. Three generations of imbeciles are enough.“ [3]
Dieses Urteil legalisierte faktisch eugenische Sterilisationen landesweit und wurde bis in die 1970er Jahre nicht aufgehoben.
1.5 Zielgruppen und Diskriminierungsmuster
Die Praxis der Eugenik in den USA war nicht nur auf sogenannte geistig oder psychisch Kranke beschränkt. Sie war zutiefst von rassistischen und klassistischen Vorurteilen geprägt:
- Afroamerikaner:innen, Native Americans, Einwanderer:innen aus Südeuropa, Asien und Lateinamerika waren besonders häufig betroffen.
- In Südstaaten richteten sich viele Sterilisationen gezielt gegen arme schwarze Frauen – teilweise ohne deren Wissen oder Einwilligung (siehe z. B. das Phänomen der Mississippi Appendectomy). [4]
- In Kalifornien war das Zwangssterilisationsprogramm besonders umfangreich: Etwa ein Drittel aller Zwangssterilisationen in den USA fanden dort statt. [5]
1.6 Der langsame Niedergang und die Aufarbeitung
Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren begann unter dem Einfluss der Bürgerrechtsbewegung und eines gewandelten medizinethischen Bewusstseins eine kritische Auseinandersetzung mit der eugenischen Vergangenheit. Zwangssterilisationen nahmen ab – wurden aber nicht flächendeckend sofort beendet. In North Carolina etwa bestand das Sterilisationsprogramm bis 1974 fort.
In den letzten Jahren haben mehrere Bundesstaaten (z. B. Kalifornien, Virginia, North Carolina) ihre eugenischen Sterilisationsprogramme öffentlich entschuldigt und Entschädigungszahlungen an Betroffene beschlossen. [6]
Fazit zu Abschnitt 1
Die Eugenikbewegung in den USA war ein tiefgreifendes gesellschaftliches Phänomen mit weitreichenden politischen, rechtlichen und menschlichen Folgen. Sie zeigt, wie pseudowissenschaftliche Konzepte mit sozialer Kontrolle, Diskriminierung und staatlicher Gewalt verwoben wurden. Die Spuren dieser Geschichte wirken bis heute nach – in biopolitischen Debatten ebenso wie in strukturellen Ungleichheiten im Gesundheitswesen und in Fragen reproduktiver Rechte.
2. Die Debatte um „Euthanasie“ in den USA
2.1 Medizinethische Diskussionen und gesellschaftlicher Kontext
Im Gegensatz zu den systematischen Tötungsprogrammen im nationalsozialistischen Deutschland war die Diskussion über „Euthanasie“ in den USA stark von medizinethischen Fragen geprägt. In der US-amerikanischen Debatte des frühen 20. Jahrhunderts bezog sich der Begriff „Euthanasie“ vorwiegend auf das Sterbenlassen unheilbar kranker oder leidender Patienten – insbesondere auf das Thema der sogenannten „Gnadentötung“ (engl. mercy killing).
Bereits in den 1910er- und 1920er-Jahren wurden öffentliche Diskurse über die Möglichkeit, schwerstkranken Menschen das Leiden zu ersparen, in medizinischen Fachzeitschriften und Zeitungen geführt. Besonders hervorzuheben ist die Gründung der Euthanasia Society of America im Jahr 1938, deren Ziel es war, durch Aufklärung und rechtspolitischen Druck die Akzeptanz für Euthanasie (im Sinne von Sterbehilfe) zu fördern. [1]
Allerdings handelte es sich nicht um ein einheitliches Anliegen: Die Debatten waren geprägt von Spannungen zwischen medizinischem Fortschritt, christlich-moralischen Vorstellungen, juristischen Grenzen und humanitären Argumenten. In den meisten Fällen wurde „Euthanasie“ mit einem humanen Tod durch Medikation gleichgesetzt – jedoch ohne aktive Tötungsabsicht im institutionellen oder staatlichen Rahmen.
2.2 Rechtliche Entwicklung: Sterbehilfe, Patientenverfügung und assistierter Suizid
Passive Euthanasie und Behandlungsverzicht
Ab den 1970er-Jahren rückte die Frage in den Mittelpunkt, ob Patienten (oder deren Angehörige) das Recht haben, lebensverlängernde Maßnahmen zu verweigern oder abzulehnen. Ein zentraler Fall war der der Karen Ann Quinlan, einer jungen Frau, die nach einem Drogenkonsum in ein dauerhaftes Koma fiel. Ihre Eltern forderten, sie von der lebenserhaltenden Beatmung zu nehmen. Der Fall ging bis zum Obersten Gerichtshof von New Jersey, der 1976 entschied, dass Patienten ein verfassungsmäßiges Recht auf Ablehnung medizinischer Behandlung hätten – auch über Bevollmächtigte. [2]
Ähnliche Fälle (z. B. Nancy Cruzan, 1990) führten zur Entwicklung von Advance Directives, insbesondere der Patientenverfügung und der Vorsorgevollmacht, sowie zur Einführung von Ethikkommissionen in Krankenhäusern.
Assistierter Suizid
Der assistierte Suizid (bei dem Ärzte tödliche Medikamente bereitstellen, die der Patient selbst einnimmt) ist in den USA bis heute umstritten, aber in mehreren Bundesstaaten legalisiert:
- Oregon war 1997 der erste Staat mit dem Gesetz Death with Dignity Act, das Menschen mit terminaler Diagnose und maximal sechs Monaten Lebenserwartung das Recht auf assistierten Suizid einräumt. [3]
- Weitere Bundesstaaten folgten, darunter Washington (2009), Vermont (2013), California (2016) und Colorado (2016).
Aktive Sterbehilfe, bei der ein Arzt selbst den Todeseintritt herbeiführt (wie etwa in den Niederlanden oder Belgien), ist in den USA nicht legal.
2.3 Soziale Gruppen im Fokus
Auch wenn es in den USA kein staatliches Tötungsprogramm wie im Nationalsozialismus gab, so existierten doch gesellschaftliche und medizinische Praktiken, die auf eine strukturelle Entwertung von Leben hinausliefen – insbesondere bei Menschen mit Behinderungen, chronisch Kranken und alten Menschen.
- In Pflegeeinrichtungen und Psychiatrien wurden häufig lebenserhaltende Maßnahmen unterlassen, ohne dass Patienten oder Angehörige ausreichend informiert wurden.
- Es existierten unausgesprochene Praxisstandards, die die Lebensqualität von Menschen mit schweren Behinderungen als nicht „lebenswert“ bewerteten – eine problematische Parallele zur nationalsozialistischen Argumentation, wenn auch ohne deren systematische Gewaltpraxis.
3. Transatlantische Verflechtungen: Der Einfluss der US-Eugenik auf das NS-Regime
3.1 Ideologische und institutionelle Verbindungen
Ein besonders beklemmender Aspekt der US-Eugenikgeschichte ist ihre direkte Einflussnahme auf die Rassenhygiene und Euthanasiepolitik des NS-Regimes. In den 1920er- und 1930er-Jahren waren amerikanische eugenische Einrichtungen führend im internationalen Diskurs, und viele deutsche Eugeniker sahen in den USA ein Vorbild.
Der bereits erwähnte Harry H. Laughlin etwa hatte nicht nur Einfluss auf die US-Gesetzgebung, sondern wurde 1936 von der Universität Heidelberg mit einem Ehrendoktor ausgezeichnet – als Anerkennung seiner „wissenschaftlichen Verdienste um die Rassenhygiene“. [4]
Auch Kalifornien war hier besonders aktiv: Kalifornische Behörden führten die mit Abstand meisten Zwangssterilisationen durch und unterhielten enge Verbindungen zu deutschen Wissenschaftlern. Dokumente zeigen, dass Ernst Rüdin, ein zentraler Architekt der NS-Rassenhygiene, sich direkt auf US-amerikanische Studien bezog. [5]
3.2 Parallelen in der Gesetzgebung
Die amerikanischen Einwanderungsgesetze von 1924 (Immigration Act), die rassisch motivierte Quotenregelungen einführten und „minderwertige Rassen“ (z. B. Osteuropäer, Asiaten, Juden) diskriminierten, wurden von Hitler in „Mein Kampf“ ausdrücklich gelobt. Er sah darin ein Modell, wie durch juristische Mittel eine „Rassenreinheit“ hergestellt werden könne. [6]
Die USA waren damit das erste große westliche Land, das rassenbiologische Ideen institutionalisiert hatte – in Form von Einwanderungskontrolle, Zwangssterilisation und sozialmedizinischer Diskriminierung.
3.3 Differenzen: Von der Eugenik zur industriellen Vernichtung
Trotz aller ideologischen Parallelen ist es wichtig, die Unterschiede klar zu benennen. Die NS-Euthanasieprogramme, insbesondere die sogenannte „Aktion T4“, gingen weit über alles hinaus, was in den USA geschah:
- Zwischen 1939 und 1945 wurden im Rahmen der Aktion T4 über 70.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen in Tötungsanstalten wie Hadamar, Grafeneck oder Brandenburg ermordet – durch Gas, Überdosis oder Verhungernlassen.
- Die ideologische Radikalität in Deutschland basierte auf der Vorstellung eines „Volkskörpers“, der von „Schädlingen“ gereinigt werden müsse – eine biopolitische Logik, die zur Shoah führte.
Während die US-Eugenik also strukturelle Gewalt ausübte, blieb sie zumeist in den Grenzen des Rechtssystems und setzte auf Kontrolle, nicht auf physische Vernichtung. Dennoch lieferte sie Vorbilder und Legitimationen, die in Deutschland in tödliche Konsequenz überführt wurden.
Fazit zu Abschnitt 2 und 3
Die amerikanische Eugenik- und Euthanasiedebatte war nicht nur ein US-amerikanisches Phänomen, sondern Teil eines globalen biopolitischen Diskurses. In ihrer institutionellen Ausprägung und wissenschaftlichen Autorität prägte sie maßgeblich die nationalsozialistische Politik der „Rassenhygiene“. Auch wenn die USA kein systematisches Tötungsprogramm betrieben, war der Schaden durch Zwangssterilisation, Diskriminierung und medizinische Gewalt massiv – und seine ideologischen Spuren reichen bis heute.
Fazit
Zwar gab es in den Vereinigten Staaten kein Euthanasieprogramm im Sinne der Tötung von Menschen mit Behinderungen durch den Staat. Dennoch zeigen die umfangreichen Zwangssterilisationen, dass auch die US-Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert tief in eugenisches Denken verstrickt war. Diese Praktiken verletzten fundamentale Menschenrechte und bildeten zugleich einen ideologischen Nährboden für spätere Verbrechen in Europa.
Die kritische Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der US-Geschichte ist notwendig – nicht zuletzt, um ethische Standards im Umgang mit medizinischer Macht, reproduktiven Rechten und dem Wert menschlichen Lebens zu stärken.
Literaturverzeichnis
- Kevles, Daniel J. In the Name of Eugenics: Genetics and the Uses of Human Heredity. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1985.
- Lombardo, Paul A. Three Generations, No Imbeciles: Eugenics, the Supreme Court, and Buck v. Bell. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2008.
- Black, Edwin. War Against the Weak: Eugenics and America’s Campaign to Create a Master Race. New York: Four Walls Eight Windows, 2003.
- Stern, Alexandra Minna. Eugenic Nation: Faults and Frontiers of Better Breeding in Modern America. Berkeley: University of California Press, 2005.
- Pernick, Martin S. The Black Stork: Eugenics and the Death of „Defective“ Babies in American Medicine and Motion Pictures since 1915. New York: Oxford University Press, 1996.
- Capron, Alexander M., und Leon R. Kass. „A Statutory Definition of the Standards for Determining Human Death: An Appraisal and a Proposal.“ University of Pennsylvania Law Review 121, Nr. 1 (1972): 87–118.
- Kühl, Stefan. The Nazi Connection: Eugenics, American Racism, and German National Socialism. New York: Oxford University Press, 1994.
- Lifton, Robert Jay. The Nazi Doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide. New York: Basic Books, 1986.