Zur Gegenwärtigkeit des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft

Ein Versuch über Schatten, Symbole und das Gedächtnis der Geschichte

„Jene, die sich nicht erinnern können, sind dazu verdammt, es zu wiederholen.“
– George Santayana

Wenn man die Straßen Berlins durchquert, besonders an einem trüben Novembermorgen, während die Nässe das Pflaster in dunkles Silber verwandelt, kann es geschehen, dass der Blick an einem Stolperstein hängenbleibt. Ein Name, ein Datum, ein Ort der Deportation. Es sind kleine goldene Quadrate, eingeschrieben in das Gedächtnis des städtischen Körpers. Doch sie markieren nicht nur vergangene Leben, sondern auch die Art und Weise, wie Geschichte sich weiterhin in der Gegenwart bewegt — als Echo, als Gespenst, manchmal als Riss im Gewebe des kollektiven Bewusstseins.

In diesem Sinne ist die Frage nach der Gegenwärtigkeit des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft kein bloß akademisches Unternehmen. Sie ist ein hermeneutisches Drama, das sich in der Schwebe zwischen Erinnerung und Verdrängung, zwischen Ritual und Realität abspielt. Sie betrifft weniger die dogmatische Repetition historischer Fakten als vielmehr das Verständnis eines kulturellen Unbewussten — eines Palimpsests, auf dem die Geschichte nie ganz ausgelöscht ist, sondern durchschimmert, überdeckt von neuen Schichten der Zeit.

I. Der Mythos der Stunde Null – eine kollektive Amnesie

Nach 1945 bemühte sich die deutsche Gesellschaft in beispielloser Weise um eine Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es war, als hätte man versucht, die Geschichte mit einem moralischen Skalpell herauszuschneiden. Das Konzept der Stunde Null war dabei nicht bloß ein temporales Konstrukt, sondern ein semiotischer Akt: Die Bedeutung des Alten wurde negiert, um die Geburt des Neuen zu ermöglichen. Doch jeder Semiologe weiß, dass Zeichen nicht so einfach sterben.

Die Nazivergangenheit überlebte nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Verdrängung. Sie wurde sublimiert — nicht mehr als politische Macht, sondern als kulturelle Struktur. In Sprache, Architektur, in der Topographie der Städte und in den unausgesprochenen Codes der sozialen Kommunikation blieb sie eingeschrieben. Wie die lateinischen Fragmente in einem mittelalterlichen Gebetbuch.

II. Der Ur-Faschismus – ein ewiger Archetyp?

In einem meiner früheren Essays sprach ich von Ur-Faschismus – jener Form politischer Mythologie, die nicht an ein spezifisches Regime gebunden ist, sondern als ewiger Archetyp in die Kultur eingeschrieben ist. Er ist sentimental, irrational, moralisch entrückt, verehrt die Tradition und hasst das Moderne, das Komplexe, das Ambivalente.

In Deutschland äußert sich dieser Archetyp heute nicht nur in offen rechtsextremen Milieus. Viel subtiler — und gefährlicher — lebt er in Form kultureller Affekte fort: in einem diffusen Ressentiment gegen „die da oben“, in einer Sehnsucht nach Ordnung, in der Dämonisierung des Fremden. Selbst in der Sprache mancher Intellektueller findet man das Bedürfnis nach klaren Grenzen, nach Reinheit und Identität — als ob das Weltverstehen nur in binären Kategorien möglich wäre.

Was sich in Teilen der deutschen Gesellschaft zeigt, ist keine Wiederkehr des Nationalsozialismus als historische Formation. Es ist vielmehr das Fortleben seiner Struktur: der Kult des Autoritären, die Verherrlichung der Opferrolle des „Volks“, die antiintellektuelle Geste gegen „die Elite“. Die AfD ist nicht Hitler, aber sie ist ein Symptom.

III. Die Musealisierung des Schreckens – oder: Wenn Erinnerung ritualisiert wird

Deutschland hat mit großem Ernst und institutioneller Konsequenz versucht, seine Geschichte aufzuarbeiten. Mahnmale, Dokumentationszentren, Bildungspläne. Und doch: Manchmal verwandelt sich das Gedenken in eine Art sakralisierten Automatismus, der den Schrecken ästhetisiert und die Distanz zum Gegenwärtigen stabilisiert.

Wenn Schüler durch das Holocaust-Mahnmal gehen, schweigen sie respektvoll. Aber ist das Schweigen Erkenntnis oder bloß sozial erwünschte Performanz? Ist das Erinnern ein lebendiger Akt oder ein museales Ritual, vergleichbar mit dem Abbrennen von Weihrauch in einer säkularisierten Kirche?

Ein gefährliches Paradoxon: Je stärker die Rituale des Erinnerns institutionalisiert werden, desto weniger scheinen sie die Struktur des Denkens zu durchdringen. Es ist ein bisschen wie bei den mittelalterlichen Reliquien – sie wurden verehrt, ohne dass man den Märtyrer kannte.

IV. Digitalisierung, Memes und der neue Faschismus im Netz

Das 21. Jahrhundert bringt eine neue Komplexität mit sich: die digitale Kommunikation. Memes, Twitter, TikTok – in diesen Formaten wird der politische Diskurs nicht mehr durch Argumente, sondern durch Affekte strukturiert. Ironie, Sarkasmus, Zynismus sind die neuen Rhetoriken.

Hier mutiert der Geist des Nationalsozialismus zum digitalen Phantom: Man trägt Hakenkreuze als provokative Accessoires, postet Hitlerparodien mit ironischer Distanz – und dabei bleibt ein Rest Faszination. Es ist die Ästhetisierung des Bösen, die Nietzsche so fürchtete. Der Faschismus von morgen, sagte einst ein kluger Denker, werde als Antifaschismus daherkommen – vielleicht kommt er heute als Satire.

V. Das Unbehagen in der Mitte – demokratische Fragilität

Es ist bequem, den Nationalsozialismus in die Ränder der Gesellschaft zu verlagern, in die Neonazis, die Hooligans, die Internet-Trolle. Doch die eigentliche Gefahr liegt in der Mitte. Wenn sich die demokratische Gesellschaft nicht mehr wehrt, nicht aus Angst, sondern aus Müdigkeit, dann beginnen die alten Strukturen zu singen wie Sirenen.

Nationalsozialismus ist kein singuläres historisches Ereignis, sondern eine Möglichkeit im Repertoire moderner Gesellschaften. Die deutsche Geschichte zeigt uns nicht nur, was geschehen ist, sondern was geschehen kann. In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit ihm nicht abgeschlossen, sondern eine tägliche Übung — ähnlich wie die Lektüre Dantes oder das Rezitieren von Psalmen.

Epilog – Eine letzte Notiz aus dem Schatten

Ich erinnere mich an eine Reise nach Weimar, an einem frostigen Januarabend. Im Zwielicht der Dämmerung lag das KZ Buchenwald auf dem Ettersberg – dort, wo einst Goethe spazieren ging. Es war, als ob die deutsche Seele dort in zwei Richtungen gleichzeitig rief: zur Aufklärung und zur Barbarei.

Die Gegenwärtigkeit des Nationalsozialismus liegt nicht in der Wiederholung, sondern in der Möglichkeit. In der latenten Struktur der Gesellschaft, die immer wieder neu interpretiert werden muss. Und in der Verantwortung, diese Interpretation nicht den Populisten, den Revisionisten oder den Zynikern zu überlassen.

Denn die Vergangenheit vergeht nicht. Sie wartet. In Bibliotheken, in Straßennamen, in den Blicken alter Männer in der Straßenbahn. Und manchmal — in uns selbst.

Ein Gedanke zu “Zur Gegenwärtigkeit des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft

  1. Ja, die eigene Vergangenheit und die der Vorfahren liegen in uns, verankert fest. Niemand muss die göttliche Komödie; und J. W. Von Goethe, Faust I und II gelesene haben. Das Drama der Vergangenheit und das; im hier und jetzt der Wirklichkeit, spielt sich in der Seele jedes Menschen ab.

    Im Traum ist der Mensch nicht der Autor er selbst. Er ist im Traum der Beobachter, darin er nur eine Nebenrolle zu spielen hat. Der Mensch kann durch das, was der Traum ihm, und das Es ihm, quer durch seine Gedankenwelt, ins Gewissen redet, zu neuer Einsicht kommen.

    Somit kann er sich, vor allem vor sich selbst, gegen die eigene Barbarei, bevor sie im Alltag Früchte trägt, bewusst entgegen stellen.

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