Die Mimetische Theorie von René Girard

Einleitung

Die mimetische Theorie des französisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers, Anthropologen und Religionsphilosophen René Girard (1923–2015) stellt einen der originellsten interdisziplinären Beiträge des 20. Jahrhunderts zur Anthropologie, Literaturkritik und Theologie dar. Girard entwickelte seine Theorie aus literarischen Analysen heraus und erweiterte sie später zu einem umfassenden Modell menschlicher Kultur, das Gewalt, Religion und soziale Ordnung in einem neuen Licht erscheinen lässt.

Zentral für Girards Denken ist die Behauptung, dass Begehren nicht originär, sondern mimetisch ist – also durch Nachahmung entsteht. Diese mimetische Struktur menschlichen Begehrens führt zu Konflikten, die schließlich in einem Mechanismus der Sündenbockbildung kanalisiert und gelöst werden. Religionen, insbesondere archaische Opferrituale, stellen laut Girard kulturelle Systeme dar, die dieses Gewaltpotenzial eindämmen.

1. Ursprung der mimetischen Theorie

René Girards mimetische Theorie hat ihren Ursprung nicht in den klassischen Disziplinen der Anthropologie oder Soziologie, sondern in der Literaturwissenschaft. Girard war ursprünglich Literaturhistoriker und arbeitete als Professor für französische Literatur u. a. an Universitäten wie Johns Hopkins, SUNY Buffalo und Stanford. In seiner frühen intellektuellen Entwicklung beschäftigte er sich intensiv mit dem Werk großer europäischer Romanciers, insbesondere mit Cervantes, Stendhal, Flaubert, Dostojewski und Proust.

Sein erstes großes Werk, „Mensonge romantique et vérité romanesque“ (1961; dt.: „Romantische Lüge und romanhafte Wahrheit“), bildet den Ausgangspunkt der mimetischen Theorie. Hierin entwickelt Girard die Idee, dass das menschliche Begehren nicht autonom, spontan oder „authentisch“ ist, wie es die romantische Tradition nahelegt, sondern strukturell vermittelt durch ein Modell – eine andere Person, die das zu begehren vorgibt, was das Subjekt schließlich selbst begehren wird.

1.1 Die literarische Entdeckung des vermittelten Begehrens

Girard unterscheidet in seiner Lektüre zwischen zwei Arten des Begehrens:

  • Romantisches Begehren: Das Ich glaubt, es wünsche aus sich selbst heraus (z. B. Liebe, Ruhm, Reichtum).
  • Romanhaftes Begehren: Die Struktur des Begehrens wird im Roman entlarvt – das Subjekt begehrt etwas, weil ein anderes Subjekt es begehrt.

In diesem Sinne entwickelt Girard das „dreieckige Begehren“ (désir triangulaire). Es besteht aus:

  1. dem Subjekt (der begehrenden Person),
  2. dem Modell oder Mediator (die Person, die das Begehren vermittelt),
  3. dem Objekt (das begehrte Ding oder Wesen).

Beispielsweise begehrt Don Quijote Dulcinea nicht aus eigenem Impuls, sondern weil er seine Vorstellung von ritterlicher Liebe dem Modell aus Ritterromanen entnimmt. Ähnlich lässt sich in Stendhals Le Rouge et le Noir oder Prousts Recherche nachvollziehen, wie die Figuren von Modellen beeinflusst werden, die sie bewundern oder idealisieren.

Girard schreibt:

„Das Begehren ist nicht einfach auf das Objekt gerichtet, sondern es ist durch das Modell hindurch vermittelt. Dieses Modell, ob nun real oder imaginär, steht im Zentrum jeder echten Analyse des Begehrens.“ (Girard 1961)

1.2 Die Metamorphose des Modells: Von extern zu intern

Ein bedeutender Aspekt der Theorie ist Girards Unterscheidung zwischen externen und internen Mediatoren:

  • Externe Mediatoren (z. B. mythische Helden, weit entfernte Vorbilder): Ihre Vorbildfunktion steht außer Zweifel, und es besteht kein echter Konflikt mit dem Subjekt. Beispiel: Don Quijote und Amadis de Gaula.
  • Interne Mediatoren (z. B. Freunde, Nachbarn, Geschwister): Sie sind Teil derselben sozialen Welt wie das Subjekt. Hier entsteht Rivalität, da beide Anspruch auf dasselbe Objekt erheben.

Diese Differenz wird später zentral für Girards Erklärung der Eskalation von Konflikten: Das mimetische Begehren in einer sozialen Gruppe führt zu Konkurrenz, Neid und schließlich zu gewaltsamer Konfrontation.

1.3 Übergang zur Anthropologie

Aus dieser literarischen Beobachtung zieht Girard eine allgemeine anthropologische Schlussfolgerung: Menschliches Begehren ist strukturell mimetisch. Es ist nicht nur ein literarisches Motiv, sondern ein fundamentaler Mechanismus der menschlichen Psyche und Gesellschaft.

Dieser Schritt vom literarischen Text zur allgemeinen Anthropologie ist ein methodischer Bruch, der sowohl die Originalität als auch die umstrittene Natur von Girards Theorie ausmacht. Er selbst beschreibt diesen Erkenntnisschritt später als „epochal“ für sein Denken:

„Ich hatte das Gefühl, dass ich auf etwas sehr Grundlegendes gestoßen war – eine Art der Nachahmung, die nicht bloß Verhalten, sondern das Verlangen selbst betrifft.“ (Girard, zitiert in Palaver 2003)

Die mimetische Theorie, die in literarischer Analyse ihren Ursprung nahm, wird so zur Grundlage einer umfassenden Deutung menschlicher Kultur, Geschichte und Religion. Es ist dieser interdisziplinäre Impuls – von der Literatur zur Anthropologie, zur Religion und schließlich zur Theologie –, der Girards Werk seine besondere Kraft verleiht.

2. Die Struktur des mimetischen Begehrens

Im Zentrum der mimetischen Theorie steht Girards grundlegende Behauptung: Der Mensch begehrt nicht direkt ein Objekt, sondern vermittelt durch ein anderes Subjekt, ein Modell. Das bedeutet: Begehren ist nicht spontan, sondern nachahmend (mimetisch). Diese Einsicht unterscheidet Girards Ansatz sowohl von klassischen ökonomischen als auch von psychoanalytischen Theorien des Begehrens.

2.1 Mimetisches Begehren: Von der Beobachtung zur Struktur

Die mimetische Theorie basiert auf der Beobachtung, dass Menschen in sozialen Kontexten sehr häufig nicht eigenständig entscheiden, was sie begehren, sondern sich an den Wünschen anderer orientieren. Dabei geht es nicht um bloßes Kopieren von Verhalten (Imitation), sondern um die viel tiefere Struktur des Begehrens selbst.

Girard stellt dies in seinem Frühwerk „Romantische Lüge und romanhafte Wahrheit“ (1961) erstmals systematisch dar. Er beobachtet an literarischen Figuren – etwa bei Cervantes, Dostojewski, Flaubert und Proust –, dass deren Begehren immer an ein Modell gekoppelt ist, das selbst begehrt oder als wünschenswert erscheint.

„Man begehrt nicht einfach ein Objekt, sondern immer durch ein anderes Subjekt hindurch – das Begehren ist strukturell dreieckig.“ (Girard 1961)

2.2 Das Dreieck des Begehrens

Girard beschreibt das mimetische Begehren als trianguläre Struktur. Diese umfasst drei Elemente:

  1. Das Subjekt – die Person, die begehrt.
  2. Das Objekt – das, was begehrt wird (eine Person, ein Status, ein Besitz, ein Ideal).
  3. Das Modell oder der Mediator – die Person, die das Objekt ebenfalls begehrt oder wünschenswert erscheinen lässt.

Dieses Begehren funktioniert nicht linear (Ich → Objekt), sondern vermittelt:
Ich → Modell → Objekt.

Beispiel: Ein Kind zeigt wenig Interesse an einem Spielzeug, bis ein anderes Kind es zu beanspruchen beginnt – nun wird das Spielzeug begehrenswert. Das andere Kind fungiert als Modell, das den Wert des Objekts „offenbart“.

Girard nennt zwei Haupttypen von Mediatoren:

  • Externe Mediatoren – Figuren, die weit entfernt oder unerreichbar sind (z. B. Helden aus Mythen, Ideale, Fernsehstars). Hier bleibt die Beziehung eher einseitig bewundernd oder inspirierend.
  • Interne Mediatoren – Personen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld. Hier entstehen Rivalitäten, da Subjekt und Modell auf dasselbe Objekt zugreifen wollen.

Diese Unterscheidung ist entscheidend für die Dynamik sozialer Konflikte, wie sie sich etwa in Eifersucht, Neid, Konkurrenz und Statuskämpfen zeigen.

„Der Andere ist nicht nur mein Vorbild – er ist mein Rivale, mein Spiegel, mein Gegner.“ (Girard 1978)

2.3 Von Nachahmung zu Rivalität

Das mimetische Begehren trägt eine paradoxe Ambivalenz in sich:

  • Einerseits bewundert das Subjekt das Modell.
  • Andererseits wird das Modell zum Hindernis – denn es begehrt (oder besitzt) dasselbe Objekt.

Diese doppelte Dynamik führt zur Rivalität. Zwei Menschen begehren nicht, weil das Objekt objektiv begehrenswert ist, sondern weil sie einander nachahmen. So entsteht eine mimetische Schleife, eine sich selbst verstärkende Spirale der Konkurrenz:

  • Je mehr der eine begehrt, desto mehr begehrt der andere.
  • Je mehr ein Subjekt dem anderen gleicht, desto mehr verschwimmt die Grenze zwischen ihnen – ihre Identität wird bedroht.

„Mimetisches Begehren führt zur Konvergenz der Subjekte – nicht zur Trennung. Sie kämpfen um das gleiche Objekt, weil sie einander imitieren, nicht weil das Objekt einen absoluten Wert hätte.“ (Girard 1996)

2.4 Das Objekt verliert seinen Eigenwert

In der mimetischen Dynamik verliert das Objekt seinen intrinsischen Wert. Es wird nur noch zum Mittelpunkt einer symbolischen Auseinandersetzung, zum Zankapfel, der weniger um seiner selbst willen begehrt wird, als wegen des Wertes, den der andere ihm zuschreibt. So wird das Objekt zum leeren Signifikanten, ein „Etwas“, das Bedeutung nur aus der mimetischen Beziehung erhält.

Beispiel aus der Literatur: In Dostojewskis Die Dämonen begehren mehrere Figuren dieselbe Frau – nicht aus Liebe, sondern weil sie zum Symbol männlicher Macht, Prestige oder Kontrolle über den Rivalen wird.

Diese Erkenntnis hat tiefe Konsequenzen:

  • Begehren ist relational, nicht substantiell.
  • Konflikte entstehen nicht durch Mangel an Ressourcen, sondern durch mimetische Konvergenz.
  • Der Andere wird zum Hindernis, gerade weil er das Vorbild war.

2.5 Anthropologische und soziale Bedeutung

Girards These geht über das Individuum hinaus: Gesellschaften sind durchzogen von mimetischen Strukturen, die soziale Felder wie Politik, Wirtschaft, Religion, Mode, Medien oder sogar Krieg organisieren. Die Stabilität einer Gesellschaft hängt davon ab, ob sie Wege findet, mimetische Konflikte zu regulieren.

Daher ist das mimetische Begehren nicht nur psychologisch, sondern strukturell und politisch relevant. Es erzeugt Hierarchien, Ideologien, Marktmechanismen – und eben auch Gewalt.

„Die Wurzel des Konflikts ist nicht der Unterschied, sondern die Ähnlichkeit. Je mehr wir einander gleichen, desto mehr geraten wir in Rivalität.“ (Girard 2001)

2.6 Kritik und Rezeption

Girards Konzept des mimetischen Begehrens wurde in Philosophie, Psychologie und Soziologie intensiv diskutiert. Kritiker werfen ihm vor, das Begehren zu monokausal zu erklären, also alle Formen des Verlangens auf Nachahmung zu reduzieren. Girard entgegnet, dass seine Theorie nicht alle Wünsche, wohl aber die zentralen konfliktauslösenden Dynamiken erfasse – insbesondere dort, wo soziale Spannungen eskalieren.

3. Die Eskalation mimetischer Rivalität

Das mimetische Begehren hat, wie bereits dargestellt, eine tief ambivalente Struktur: Es führt Menschen zueinander und gleichzeitig in eine Konstellation, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in Konflikt und Gewalt umschlägt. In Teil 3 der mimetischen Theorie beschreibt Girard die Dynamik, wie mimetisches Begehren zur Rivalität eskaliert und schließlich ganze Gesellschaften destabilisieren kann.

3.1 Von Begehren zur Aggression

Der Übergang vom Begehren zur Gewalt ist in Girards Modell strukturell notwendig: Wenn zwei oder mehr Subjekte dasselbe Objekt begehren – nicht wegen seiner Nützlichkeit, sondern weil sie einander imitieren – wird der andere unweigerlich zum Hindernis. Der ehemalige „Mediator“ (Vorbilder) wird zum „Rivalen“ – ein Phänomen, das Girard als „metaphysische Rivalität“ bezeichnet.

„Je näher sich zwei begehrende Subjekte stehen, desto größer die Gefahr der Feindschaft.“ (Girard 1978)

Rivalität ist dabei nicht die Folge objektiven Mangels, sondern von Nachahmung, welche die Bedeutung des Objekts aufbläht und die Spannung zwischen den Subjekten steigert.

3.2 Mimetische Schleifen und die Krise der Ununterscheidbarkeit

Wenn die Rivalen sich zunehmend imitieren – nicht nur in ihrem Begehren, sondern auch in ihrer Ablehnung, Aggression und Gewalt – entsteht eine Spirale der Eskalation. Girard nennt dies die „mimetische Krise“: Die Unterschiede zwischen den Parteien verschwinden. Beide Seiten werfen einander dasselbe Verhalten vor, spiegeln sich gegenseitig und geraten in einen Zustand radikaler Unterscheidungslosigkeit.

„Die Rivalen werden zu Zwillingen, die sich gegenseitig hassen.“ (Girard 1996)

Diese Dynamik betrifft nicht nur Individuen, sondern ganze soziale Gruppen, politische Fraktionen oder sogar Nationen – etwa in Bürgerkriegen, Fanatismus oder Revolutionen. Die kollektive Ordnung beginnt zu wanken.

3.3 Die mimetische Krise

In der mimetischen Krise lösen sich kulturelle Unterschiede, Rollen, Institutionen und Normen auf. Es entsteht eine Atmosphäre von Verwirrung, Gewalt und Identitätsverlust. Diese Krise ist nicht das Ergebnis äußerer Umstände (Hunger, Naturkatastrophen), sondern eine soziale Implosion, die durch unkontrolliertes mimetisches Begehren und Rivalität entsteht.

„Die mimetische Krise ist die Aufhebung aller Differenz – sie ist die Entfesselung der Gewalt in einem Zustand absoluter Nachahmung.“ (Girard 1978)

Ohne ein Ventil oder eine symbolische Lösung droht der Zusammenbruch der sozialen Ordnung.

4. Der Sündenbockmechanismus

Der Sündenbockmechanismus ist Girards Antwort auf die Frage: Wie bewältigen Gesellschaften diese mimetischen Krisen, ohne sich selbst zu zerstören? Die Antwort ist ebenso einfach wie erschreckend: durch die kollektive Opferung eines Dritten.

4.1 Gewaltumleitung durch Opferung

Girard stellt fest, dass in der Geschichte der Menschheit immer wieder ein identisches Muster auftaucht: Wenn soziale Konflikte unlösbar erscheinen, entlädt sich die gesammelte Aggression auf ein Einzelnes oder eine kleine Gruppe, die als verantwortlich für die Krise identifiziert wird – unabhängig von tatsächlicher Schuld.

Dieses Opfer erfüllt zwei Funktionen:

  • Kanalisiert die Gewalt (sie wird nicht mehr wahllos ausgeübt).
  • Stiftet soziale Einigkeit, da sich alle gegen einen gemeinsamen „Feind“ verbünden.

„Das Opfer ist zufällig – aber notwendig. Es erscheint als Ursache der Krise, obwohl es nur ihr Symptom ist.“ (Girard 1986)

Die Gewalt wird so sakralisiert: Die Tötung oder Verbannung des Opfers erscheint gerecht, heilbringend, reinigend – und wird zum Ursprung von Mythen, Ritualen und Religion.

4.2 Die Entstehung von Mythen und Religion

Girard zeigt anhand zahlreicher Beispiele aus antiken Mythen, dass viele dieser Geschichten nicht historisch motiviert, sondern ideologische Verschleierungen eines kollektiven Mordes sind. Die ermordete Figur wird im Mythos als bedrohlich, göttlich, unheimlich oder gleichzeitig rettend dargestellt – ein Zeichen dafür, dass hier eine Sündenbock-Erzählung vorliegt.

Beispiel: In der griechischen Mythologie wird Oedipus beschuldigt, Vatermord und Inzest begangen zu haben – also die Ordnung zerstört zu haben. Seine Verbannung bringt der Stadt Theben Heil. Aus Girards Sicht ist dies eine narrative Rationalisierung: Oedipus ist ein Unschuldiger, der zum kollektiven Sündenbock gemacht wurde.

„Die Mythen lügen, die Evangelien sagen die Wahrheit – das ist der Unterschied zwischen sakraler Verschleierung und biblischer Enthüllung.“ (Girard 2001)

4.3 Ritual als Gedächtnis der Gewalt

Die regelmäßige Wiederholung von Opferriten (Tieropfer, Sühnerituale, Sündenübertragung) dient dazu, den ursprünglichen Sündenbockmechanismus symbolisch zu wiederholen, ohne reale Gewalt zu üben. Religion entsteht so als eine kulturelle Bewältigungsstrategie mimetischer Gewalt.

Rituale:

  • halten die Gewalt im Zaum,
  • erinnern an das erste Opfer,
  • erzeugen soziale Kohäsion.

Allerdings besteht hier eine Gefahr: Das eigentliche Opfer wird vergessen, und die Institutionen, die aus dem Gewaltakt hervorgehen, erscheinen als gottgewollt oder naturgegeben.

4.4 Der Sündenbockmechanismus in der Moderne

Girard betont, dass der Sündenbockmechanismus auch in modernen, säkularisierten Gesellschaften weiterwirkt, oft in subtileren Formen:

  • Feindbilder in der Politik
  • Mediale Empörungskulturen
  • Populistische Erzählungen von „denen da oben“ oder „den Fremden“
  • Wirtschaftliche Krisen, die auf einzelne Bevölkerungsgruppen projiziert werden

„Der moderne Mensch glaubt nicht mehr an Opfer – aber er opfert weiterhin.“ (Girard 2001)

Die Krise der Moderne liegt darin, dass der Sündenbockmechanismus immer weniger funktioniert – weil er durch Aufklärung, Medienkritik und Menschenrechte entlarvt wurde. Damit wächst aber auch die Gefahr unregulierter mimetischer Gewalt – ohne entlastende „Lösung“.

4.5 Der Sündenbock als kulturelles Fundament

Die mimetische Theorie dekonstruiert das Fundament menschlicher Kultur: Kultur beginnt nicht mit Vertrag und Vernunft (Hobbes, Rousseau), sondern mit Gewalt, die durch Opferung reguliert wird. Girard entlarvt den Gründungsmythos der Gesellschaft als einen der Verdrängung – und ruft zur Umkehr auf.

Das Christentum nimmt dabei eine Sonderstellung ein: Es zeigt – in den Evangelien – erstmals das Opfer als unschuldig. Damit beginnt eine neue Ethik, die Gewalt nicht mehr verschleiert, sondern offenbart. Der Mensch ist aufgefordert, aus dem Kreislauf von Begehren – Rivalität – Opfer auszubrechen.

5. Die Rolle der Religion in der mimetischen Theorie

René Girard geht davon aus, dass Religion – entgegen einem säkularisierten Vorurteil – nicht eine archaische Illusion oder bloße metaphysische Konstruktion ist, sondern eine fundamentale soziale Institution, die aus der mimetischen Gewalt hervorgegangen ist und diese reguliert.

„Religion ist ursprünglich nichts anderes als ein Versuch, die zerstörerische Kraft mimetischer Konflikte zu kontrollieren.“ (Girard 1978)

5.1 Religion als Gewaltbewältigung

Die primäre Funktion der Religion liegt für Girard nicht in der „Verbindung zu einer Transzendenz“, sondern in der Aufrechterhaltung des sozialen Friedens. Sie entsteht im Moment der mimetischen Krise – als Antwort auf die potenzielle Selbstzerstörung der Gruppe durch eskalierende Rivalitäten.

Das Mittel zur Lösung: Der Sündenbockmechanismus, der im religiösen Ritus institutionalisiert wird. Die Religion dient dazu,

  • das Opfer zu verbergen („er war wirklich schuldig“),
  • das Opfer zu vergöttlichen („er hat die Ordnung wiederhergestellt“),
  • die Wiederholung zu verhindern („Tabu“, „heilige Gesetze“, „rituelle Wiederholungen“).

Diese Struktur zeigt sich in Mythen, Ritualen und Opferkulten quer durch Kulturen – von archaischen Stammesritualen bis zu hochentwickelten Religionen der Antike.

„Das Heilige ist die Gewalt, die gebannt wurde – und zugleich die Gewalt, die jederzeit wiederkehren könnte.“ (Girard 1986)

5.2 Mythos vs. Bibel: Zwei Perspektiven auf Gewalt

Ein zentrales Anliegen Girards ist die Unterscheidung zwischen mythischen und biblischen Texten:

  • Mythen verschleiern die Gewalt: Sie erzählen aus der Perspektive der Menge, die das Opfer als schuldig darstellt.
  • Die Bibel entlarvt die Gewalt: Sie erzählt aus der Perspektive des Opfers und benennt seine Unschuld.

Beispiel: In der Orestie wird der Mord an Klytämnestra als „Rache“ legitimiert. In der Josephsgeschichte hingegen wird deutlich, dass Joseph von seinen Brüdern zu Unrecht verkauft wurde – und dennoch vergibt. Die Bibel verschiebt die Perspektive von der Ordnung zur Wahrheit.

„Die biblische Offenbarung ist die einzige große Tradition, die den Sündenbockmechanismus durchschaut – und auflöst.“ (Girard 2001)

5.3 Das Sakrale: Ambivalenz von Faszination und Furcht

Girards Begriff des „Sakralen“ ist eng verknüpft mit der Gewalt: Das, was heilig erscheint, ist oft das, was ursprünglich Opfer war. Die sakralisierte Figur – der „Gott“, der „Retter“, das „heilige Tier“ – ist nichts anderes als ein durch Gewalt aufgeladenes Zeichen, das Faszination und Angst zugleich auslöst.

Beispiel: In vielen Kulturen wird das Opfer später als Gott verehrt – die ursprüngliche Gewalt wird umgedeutet als Tat der Erlösung.

Religion in ihrer archaischen Form ist für Girard daher eine notwendige, aber letztlich unvollständige Lösung: Sie hält die Gesellschaft zusammen, aber nur durch Verdeckung der Wahrheit über das Opfer.

6. Die christliche Offenbarung als Gegenmodell

In Teil 6 seiner Theorie entwickelt Girard eine theologische Pointe, die seine anthropologischen Analysen übersteigt und transformiert: Die christliche Offenbarung bricht mit dem Sündenbockmechanismus – und enthüllt ihn als Lüge.

6.1 Jesus als unschuldiges Opfer

Im Zentrum des Evangeliums steht ein Mann, der unschuldig verurteilt, verspottet, gefoltert und getötet wird – unter dem Jubel der Menge. Jesus erfüllt dabei nicht das klassische Muster des Opfers, sondern durchkreuzt es:

  • Er stellt sich bewusst in die Rolle des Opfers.
  • Er weist die Gewalt zurück.
  • Er vergibt seinen Mördern.

Damit wird der gesamte Mechanismus des Sündenbocks offengelegt und delegitimiert.

„Jesus ist das erste Opfer, das nicht mythologisch überdeckt wird – er ist der, der den Opfern ihre Stimme gibt.“ (Girard 2001)

Im Gegensatz zum Mythos, in dem das Opfer im Nachhinein gerechtfertigt oder vergöttlicht wird, betonen die Evangelien: Er war unschuldig.

6.2 Die Aufhebung des Opfers

Mit dem Kreuz und der Auferstehung beginnt für Girard ein neues Zeitalter:

  • Der alte Mechanismus des Opferns ist entlarvt.
  • Eine neue Ethik wird möglich: Feindesliebe, Vergebung, Gewaltfreiheit.
  • Religion wird nicht mehr zur Verdeckung, sondern zur Offenbarung der Gewalt.

Der Gott der Bibel ist nicht derjenige, der Opfer fordert – sondern der, der selbst zum Opfer wird, um den Kreislauf zu durchbrechen.

„Gott stirbt nicht, weil er Gerechtigkeit will – er stirbt, weil die Menschen nach Rache dürsten.“ (Girard 1996)

Diese Wendung ist für Girard revolutionär: Sie ist nicht einfach ein theologischer Mythos, sondern eine anthropologische Enthüllung.

6.3 Christentum als „Entmythologisierung“ der Gewalt

Girard sieht in der christlichen Offenbarung die einzig kohärente Kritik am Opfermechanismus, die zugleich den Weg zur Überwindung mimetischer Gewalt öffnet. Das Christentum ist – richtig verstanden – kein Mythos, sondern Anti-Mythos.

Es bietet:

  • Eine radikale Anthropologie des Menschen als nachahmendes, konfliktfähiges Wesen.
  • Eine historische Diagnose kollektiver Gewaltmechanismen.
  • Eine ethische Perspektive jenseits von Vergeltung und Gewalt.

Girards These: Nur das Evangelium bricht den endlosen Kreislauf von Begehren, Rivalität und Opferung. Deshalb ist es nicht „bloß Religion“, sondern der Schlüssel zur Wahrheit über den Menschen.

„Das Kreuz ist nicht der Sieg der Gewalt – es ist ihre Offenbarung und Niederlage zugleich.“ (Girard 2001)

6.4 Die Herausforderung der Wahrheit

Mit der Enthüllung des Sündenbockmechanismus durch das Christentum wird der Mensch mit einer tiefen Entscheidung konfrontiert:

  • Will er weiterhin in Strukturen leben, die auf Gewalt und Verdrängung beruhen?
  • Oder ist er bereit, die Wahrheit über das Opfer zuzulassen – und sich der Konsequenz zu stellen: der radikalen Verantwortung für den Anderen?

Girard sieht im Evangelium keine moralische Botschaft im engeren Sinne, sondern einen anthropologischen Appell: Die Gewalt ist nicht notwendig – aber sie kann nur überwunden werden, wenn man ihre Ursprünge versteht.

7. Antisemitismus im Licht der mimetischen Theorie

Die mimetische Theorie bietet einen anthropologischen Zugang zur Entstehung und Reproduktion von Antisemitismus. Zentral ist dabei der Sündenbockmechanismus, durch den eine Gesellschaft in einer Krise ein Mitglied (oder eine Minderheit) kollektiv verantwortlich macht und symbolisch oder real „opfert“, um ihre Einheit wiederherzustellen. Girard sieht den Antisemitismus als paradigmatisches Beispiel für diesen Mechanismus im historischen und religiösen Kontext.

7.1 Die Juden als kollektive Sündenböcke

Girard argumentiert, dass die jüdische Tradition – insbesondere die hebräische Bibel (Tanach) – eine entscheidende Entwicklung im Umgang mit Gewalt markiert. Im Gegensatz zu mythologischen Texten, in denen das Opfer als schuldig erscheint und die kollektive Gewalt gerechtfertigt wird, beginnt in der Bibel eine Entlarvung des Sündenbockmechanismus:

„Die biblischen Texte stehen auf der Seite des Opfers – sie stellen eine Erzähltradition dar, die nicht mehr die Gewalt verschleiert, sondern sie enthüllt.“ (Girard 1978)

Gerade weil das Judentum diesen Mechanismus teilweise sichtbar macht, gerät es selbst immer wieder in die Rolle des Opfers. Girard schreibt:

„Die Juden sind in der Geschichte nicht deshalb verfolgt worden, weil sie das Gewaltprinzip verteidigen, sondern im Gegenteil, weil sie es in Frage stellen.“ (Girard 1999)

Die jüdische Ablehnung von Götzen, Menschenopfern, sakralisierter Gewalt und ihre ethische Kritik an Herrschaftsverhältnissen (z. B. durch die Propheten) machen sie zu einer antimimetischen Kraft – und dadurch zu einer Zielscheibe für Gesellschaften, die auf Stabilität durch Gewalt angewiesen sind.

7.2 Fallanalyse: Die Passion Jesu und der Antijudaismus

Ein zentrales Beispiel für Girards Theorie im Kontext des Antisemitismus ist die Passion Jesu, wie sie in den Evangelien dargestellt wird. Während diese Texte ursprünglich eine Aufdeckung des Sündenbockmechanismus intendieren – Jesus wird als unschuldig dargestellt –, haben sich historisch daraus antijüdische Deutungen entwickelt, in denen „die Juden“ kollektiv als Täter erscheinen.

Problematische Rezeption:

Die christliche Geschichte hat häufig die Schuld an Jesu Tod pauschal dem jüdischen Volk zugeschrieben, eine Haltung, die in der Formel „Christusmörder“ gipfelte. Diese Rezeption widerspricht jedoch dem eigentlichen Impuls der Evangelien, so Girard:

„Die Evangelien beschuldigen niemanden außer der kollektiven Gewalt. Ihre eigentliche Pointe ist, dass alle schuldig sind – und niemand speziell.“ (Girard 1999)

Für Girard ist die Passion keine Anklage gegen ein bestimmtes Volk, sondern eine universelle Offenlegung des Sündenbockmechanismus. Jesus wird nicht getötet, weil die Juden es so wollten, sondern weil eine mimetische Eskalation zwischen politischen, religiösen und sozialen Instanzen nicht mehr anders zu beruhigen war.

Die Rolle des Evangelisten Johannes:

Besonders das Johannesevangelium enthält Passagen, in denen die Gegner Jesu als „die Juden“ bezeichnet werden (z. B. Joh 8,44). Girard weist darauf hin, dass diese Formulierungen nicht als ethnische Zuschreibungen, sondern als symbolische Bezeichnungen zu lesen seien – als „die Menge“, „die Welt“, also als Ausdruck der mimetischen Masse, die nach einem Opfer verlangt:

„‚Die Juden‘ stehen hier für die kollektive Gewaltlogik – nicht für ein konkretes Volk.“ (Girard 1999)

Diese Lesart ist theologisch anspruchsvoll, aber notwendig, um Girards Theorie gegen antisemitische Missdeutungen abzusichern.

7.3 Historische Fortsetzung: Ritualmordlegenden und Pogrome

Der mittelalterliche Antisemitismus bietet ein erschütterndes historisches Beispiel für den Sündenbockmechanismus. Immer wieder wurden Juden beschuldigt, Christenkinder ermordet oder Hostien geschändet zu haben – ohne jeglichen Beweis, aber mit kollektiver Gewalt als Folge: Pogrome, Vertreibungen, Ghettoisierung.

Girards Theorie macht diese Dynamik verständlich: In Zeiten sozialer, wirtschaftlicher oder seuchenbedingter Krisen sucht die Gesellschaft nach einer Ursache, die das Unheil erklärt. Juden als religiöse Minderheit mit symbolischer Andersheit (z. B. kein Schweinefleisch, andere Feiertage, eigenes Rechtssystem) wurden als Projektionsfläche geeignet:

„Die ritualisierte Gewalt gegen Juden war nicht irrational – sie folgte einer sehr alten, mimetischen Logik der Konfliktentladung.“ (Girard, sinngemäß)

Der Antisemitismus erscheint in dieser Sicht nicht als bloßes „Vorurteil“, sondern als kulturell tief verankerter Mechanismus der sozialen Stabilisierung durch Ausschluss – ein tragisches Erbe archaischer Gewaltbewältigung.

7.4 Der Holocaust als antimimetische Katastrophe

Der Nationalsozialismus und der Holocaust stellen in Girards Denksystem eine radikale Zuspitzung des Sündenbockmechanismus dar – mit einer entscheidenden Wendung: Die Gewalt wurde nicht mehr religiös kaschiert, sondern technisch, industriell und ideologisch entmenschlicht.

Girard betont, dass die Entsakralisierung der Gewalt im 20. Jahrhundert nicht zu ihrer Überwindung geführt habe, sondern zu ihrer Entgrenzung. Während religiöse Systeme Gewalt rituell einhegen (so problematisch sie sein mögen), erlaubt die moderne Welt eine enthemmte Opferung, wie sie in Auschwitz realisiert wurde.

Der Holocaust ist für Girard nicht erklärbar durch die „Bösartigkeit Einzelner“, sondern nur durch die Macht des kollektiven Begehrens, der Angst, der Projektion und der organisierten Auslöschung eines als „fremd“ konstruierten Sündenbocks.

8. Mimetische Theorie als Instrument gegen Antisemitismus

Girards Theorie hat eine doppelte Bedeutung für die Analyse des Antisemitismus:

  1. Erklärung: Sie zeigt auf, wie und warum sich Gesellschaften in Krisen auf Opfer konzentrieren – gerade auf solche, die durch ethische Andersheit den herrschenden Gewaltmechanismus untergraben.
  2. Dekonstruktion: Sie entlarvt die Logik der Sündenbockbildung als menschenfeindlich, irrational und unbewusst, und ruft zur ethischen Umkehr auf – zu einem Handeln jenseits des mimetischen Begehrens.

Besonders wertvoll ist Girards Betonung der biblischen Tradition als Gewaltkritik – nicht als religiöse Rechtfertigung von Opferung, sondern als deren Überwindung. In einer Zeit wachsender Polarisierung und identitätspolitischer Verengung bietet seine Theorie ein anthropologisches Fundament für Verantwortung, Selbstreflexion und kollektive Entschärfung.

9. Aktuelle Relevanz und Anwendungen

René Girards mimetische Theorie ist nicht nur eine anthropologische und theologische Deutung der Frühgeschichte menschlicher Kultur – sie bietet auch ein diagnostisches Instrumentarium zur Analyse moderner Gesellschaften. Gerade in Zeiten sozialer Medien, populistischer Bewegungen, identitätspolitischer Polarisierung und antisemitischer Ressentiments zeigt sich die anhaltende Aktualität seines Denkens.

„Wir sind nicht weniger rachsüchtig als die archaischen Gesellschaften – wir sind nur raffinierter in der Verschleierung unserer Opfermechanismen.“ (Girard 2001)

9.1 Mimetik und Antisemitismus: Eine Fallanalyse

Der Antisemitismus stellt aus Girardscher Sicht einen paradigmatischen Fall des Sündenbockmechanismus dar. Die Juden werden in Zeiten sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Krisen wiederholt als kollektive Projektionsfläche für mimetische Spannungen verwendet – obwohl sie nachweislich keine objektive Ursache der Konflikte sind.

Fallbeispiel: Der nationalsozialistische Antisemitismus

In den 1920er- und 1930er-Jahren litt die deutsche Gesellschaft unter massiver mimetischer Konkurrenz:

  • wirtschaftliche Verwerfungen (Inflation, Weltwirtschaftskrise),
  • politische Instabilität (Weimarer Republik),
  • sozialer Statusverlust bei Mittel- und Oberschichten,
  • Auflösung traditioneller Ordnungen.

Statt diese Rivalitäten direkt auszutragen, wurde eine kollektive Lösung gesucht – das „Volk“ definierte sich gegen den „Juden“ als Feindbild. Die Juden wurden dabei gleichzeitig dargestellt als:

  • zu mächtig (Finanzjudentum) und zu schwach (Entartung),
  • zu universalistisch und zu separatistisch,
  • verführerisch und bedrohlich.

Diese Ambivalenz ist typisch für Sündenbockmechanismen – das Opfer wird als so gefährlich wie notwendig dargestellt.

„Die antisemitische Ideologie ist eine klassische Sündenbockkonstruktion – sie erfindet die Schuld, um die Opferung zu rechtfertigen.“ (Girard 1986)

Der Holocaust war demnach nicht bloß ein politisches oder rassistisches Projekt, sondern ein sakralisierter Gewaltakt, der durch eine mimetische Krisendynamik vorbereitet wurde. Hitler selbst inszenierte die Shoah als eine Art „Reinigung“ der Welt – eine Pervertierung des Opfers als heiliger Akt.

Girard macht deutlich: Die Juden wurden in der Moderne nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Rolle in der biblischen Entlarvung des Opfermechanismus zur Zielscheibe. Sie waren historisch gesehen Träger der prophetischen Botschaft gegen Gewalt – und wurden daher von opferproduzierenden Ideologien (Nazismus, Antijudaismus, Verschwörungstheorien) als gefährlich empfunden.

„Die Juden haben den Sündenbockmechanismus durchschaut – und wurden deshalb zu Sündenböcken gemacht.“ (Girard 2001)

9.2 Politische Spaltung und Populismus

Auch jenseits des Antisemitismus lassen sich Girards Einsichten auf gegenwärtige gesellschaftliche Polarisierung anwenden:

  • In politischen Konflikten beobachten wir mimetische Feindschaften, bei denen Gegner einander imitieren, hassen und radikalisieren.
  • Populistische Bewegungen funktionieren durch die Konstruktion eines Sündenbocks („die Elite“, „die Ausländer“, „die Lügenpresse“) und die Herstellung einer imaginierten Homogenität des „wahren Volkes“.
  • Der politische Gegner wird dabei nicht als legitimer Kontrahent, sondern als existenzielle Bedrohung empfunden – was zur moralischen Entmenschlichung führt.

Beide Seiten im politischen Streit beginnen oft, sich gegenseitig zu spiegeln: Rhetorik, Verachtung, Skandalisierung, Protestformen. Diese Dynamik der „mimetischen Spiegelung“ ist Girardschen Ursprungs: Feinde sind sich ähnlicher als Freunde.

„Der wahre Gegensatz in der Politik ist nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen Wahrheit und Sündenbock.“ (Girard 2004)

9.3 Mimetisches Begehren in sozialen Medien

In digitalen Räumen zeigt sich Girards Theorie auf radikal neue Weise:

  • Influencer, Trends und Likes erzeugen mimetischen Sog: Menschen begehren, was andere begehren.
  • Konflikte eskalieren durch mimetische Empörung: Shitstorms, Cancel Culture, Empörungswellen.
  • Der digitale „Mob“ erzeugt neue Formen des Sündenbocks: Einzelne Personen oder Gruppen werden zur kollektiven Auslöschung markiert – meist unter moralischen Vorzeichen.

Beispiel: In einem viralen Skandal kann eine einzelne Aussage (z. B. ein Tweet) als Ausgangspunkt einer kollektiven Empörung dienen. Die Dynamik folgt exakt Girards Struktur:

  1. Eine mimetische Krise (Widerspruch, normativer Bruch)
  2. Eskalation durch Imitation der Empörung
  3. Fokussierung auf ein Opfer („der Täter“)
  4. Kollektive Einigkeit durch Ausgrenzung
  5. Kurzfristiger Frieden – bis zum nächsten Fall

„Die digitalen Medien sind ein Labor mimetischer Beschleunigung – sie erzeugen permanent Krisen, in denen neue Sündenböcke produziert werden.“ (sinngemäß nach Girard)

9.4 Identitätspolitik und moralischer Wettbewerb

Auch im Kontext der Identitätspolitik treten mimetische Dynamiken zutage:

  • Gruppen definieren sich nicht primär durch Inhalt, sondern durch Differenz zu anderen Gruppen.
  • Opferstatus wird zum umkämpften Objekt: Wer darf sprechen? Wer leidet am meisten? Wer hat die Deutungshoheit?
  • Es entsteht eine Art „moralischer Wettstreit“, bei dem Begehren, Anerkennung und Empörung aufeinanderprallen.

Dabei droht – in Girardscher Perspektive – der eigentliche ethische Impuls (Schutz der Schwachen, Gerechtigkeit) zu einem neuen Machtinstrument zu werden. Mimetische Empathie schlägt um in mimetischen Krieg.

9.5 Eine prophetische Theorie für das 21. Jahrhundert

René Girards mimetische Theorie ist eine Anthropologie der Gewalt, aber auch eine Theorie der Erlösung. Sie bietet keine einfachen Lösungen, sondern eine tiefgreifende Diagnose unserer sozialen Struktur:

  • Begehren ist immer vermittelt – und potenziell konfliktträchtig.
  • Gewalt ist sozial notwendig – aber niemals gerecht.
  • Gesellschaft lebt vom Ausschluss – oder von der bewussten Aufhebung desselben.

Die Relevanz Girards liegt nicht in einem historischen oder theologischen Interesse allein – sondern in der dringenden Frage, wie wir in einer medial überhitzten, kulturell zersplitterten und ökonomisch angespannten Welt gewaltfrei zusammenleben können.

„Der Mensch wird nicht durch Technologie oder Vernunft erlöst – sondern durch die Wahrheit über seine Gewalt.“ (Girard 2001)

10. Kritik und Rezeption der mimetischen Theorie

René Girards mimetische Theorie hat seit den 1970er-Jahren in verschiedenen akademischen Feldern – von Literaturwissenschaft über Anthropologie, Theologie bis hin zu Soziologie und Kulturkritik – eine intensive Rezeption erfahren. Gleichzeitig ist sie Gegenstand anhaltender Kritik. Die Reaktionen reichen von begeisterter Zustimmung bis zu entschiedener Ablehnung. Besonders umstritten sind die Totalität des Anspruchs, die theologische Dimension, sowie die historische Plausibilität seiner Thesen.

10.1 Rezeption: Interdisziplinäre Wirkung

Literaturwissenschaft

Girard begann als Literaturwissenschaftler, und sein Frühwerk (Mensonge romantique et vérité romanesque, 1961) gilt bis heute als Klassiker einer existenzialistisch geprägten Lesart von Literatur. Autoren wie Cervantes, Stendhal, Dostojewski, Proust und Shakespeare erscheinen bei ihm als „Romanciers der mimetischen Wahrheit“, die die Rivalitätsstruktur menschlichen Begehrens intuitiv erkannt und dargestellt haben.

In der Literaturkritik wurde sein Konzept des „mimetischen Begehrens“ als origineller Beitrag zur Figurenanalyse, zur Tragödientheorie und zur narrativen Strukturdeutung vielfach aufgenommen (vgl. Gans 1997; Kirwan 2005).

Theologie und Religionswissenschaft

Besonders stark ist die Rezeption in der Theologie, vor allem im Bereich der politischen Theologie, Soteriologie und Biblischen Hermeneutik. Girards These, dass das Christentum die Entlarvung und Überwindung des Opfermechanismus darstelle, wurde etwa von Theologen wie Raymund Schwager, James Alison, Wolfgang Palaver und Benoît Chantre produktiv weitergeführt.

Das von Girard inspirierte Netzwerk Colloquium on Violence and Religion (COV&R) bündelt seit den 1990er-Jahren diese interdisziplinäre Forschung mit Sitzungen, Tagungen und einer eigenen Fachzeitschrift (Contagion: Journal of Violence, Mimesis, and Culture).

Kultur- und Sozialtheorie

Girards Theorie wurde auch von Philosophen wie Jean-Pierre Dupuy, Giorgio Agamben oder Slavoj Žižek rezipiert – teils zustimmend, teils kritisch. Žižek lobt Girards „mutigen Realismus“, kritisiert aber seinen „metaphysischen Monismus“. Auch der deutsche Soziologe Hans Joas würdigt Girards Analyse von Gewalt, weist jedoch auf Defizite in der empirischen Begründung hin.

10.2 Hauptkritikpunkte

a) Universalität und Reduktionismus

Ein zentraler Einwand betrifft Girards hohen Anspruch auf Universalität. Kritiker bemängeln, dass Girard alle kulturellen, sozialen und religiösen Phänomene auf eine einzige Ursache – das mimetische Begehren – zurückführt. Das wirke monokausal, reduktionistisch und ignoriere komplexere soziale oder ökonomische Dynamiken.

So schreibt der französische Anthropologe Luc de Heusch:

„Girard ersetzt die Vielschichtigkeit der Kulturen durch eine einzige Urszene – das ist ein Mythos in pseudowissenschaftlichem Gewand.“ (De Heusch 1991)

Auch aus marxistischer Perspektive wurde Girard vorgeworfen, materielle Produktionsverhältnisse und ökonomische Machtstrukturen zu ignorieren und das Soziale auf ein „psychologisches Begehren“ zu verengen.

b) Mangel an historisch-anthropologischer Evidenz

Obwohl Girard sich auf anthropologische Forschung beruft (etwa Frazer, Lévi-Strauss oder Evans-Pritchard), sehen viele Ethnologen seine Thesen als spekulativ an. Es gibt keine empirisch beweisbare Urszene eines Gründungsopfers, und viele Beispiele scheinen aus dem kulturellen Kontext gerissen.

„Girard konstruiert eine universelle Urszene, wo wir nur fragmentarische Reste von Mythen und Ritualen haben – das ist mehr Dichtung als Wissenschaft.“ (Goody 1986)

Auch die These, dass Mythen immer die Täterperspektive einnehmen, wurde kritisiert – einige Mythen (etwa im Hinduismus oder in afrikanischen Kosmologien) kennen sehr wohl opferzentrierte Erzählungen.

c) Christozentrik und Apologetik

Besonders kritisch sehen viele die theologische Zuspitzung Girards: Die Behauptung, dass das Christentum einzigartig in der Entlarvung der Gewalt sei, wird als apologetisch, eurozentrisch und theologisch voreingenommen gelesen. Der jüdische Philosoph Jacob Taubes bezeichnet Girards Christentumsverständnis als „erlösungsideologische Metaphysik“ – er verwehre anderen Religionen die Fähigkeit zur Selbstkritik.

Die jüdische Rezeption ist zwiegespalten: Einerseits wird Girards Analyse des Antisemitismus begrüßt, andererseits empfinden viele seine Deutung des Alten Testaments als „Vorbereitung auf Christus“ als theologisch übergriffig.

d) Vernachlässigung der Ökonomie und Macht

Auch von feministischer und postkolonialer Seite kommt Kritik: Girards Fokus auf Gewalt und Mimesis blendet Geschlechterverhältnisse, koloniale Machtasymmetrien, strukturellen Rassismus und Kapitalismus weitgehend aus. Er bietet eine tiefgründige symbolische Erklärung, aber keine Analyse materieller Machtverhältnisse.

So schreibt Judith Butler:

„Girards Theorie der Gewalt ist faszinierend, aber sie verliert sich in symbolischen Wiederholungen – wo wir politische und strukturelle Analysen brauchen.“ (Butler 2004)

8.3 Verteidigung und Weiterentwicklungen

Trotz dieser Einwände bleibt Girards Theorie ein einflussreiches Denkmodell, das immer mehr Forschende interdisziplinär aufgreifen. Einige Versuche, seine Theorie produktiv weiterzudenken:

  • Wolfgang Palaver integriert Girard in die politische Theorie und Demokratiekritik.
  • Jean-Pierre Dupuy wendet Girards Denkweise auf Technikethik und Klimakrisen an.
  • James Alison überträgt Girards Theologie auf eine inklusive, nicht-diskriminierende christliche Ethik.
  • Cynthia Haven und Trevor Merrill bemühen sich um eine „säkulare“ Lesart Girards für gesellschaftliche Krisen.

Auch in der Psychoanalyse (Lacan), der Spieltheorie, den Digital Humanities und der Konfliktforschung entstehen neue Forschungsansätze auf Girardschem Fundament.

10.3 Eine streitbare, aber fruchtbare Theorie

René Girards mimetische Theorie ist weder endgültig bewiesen noch vollständig widerlegt – sie bleibt eine der provokantesten, originellsten und grenzüberschreitendsten Deutungen menschlicher Kultur im 20. und 21. Jahrhundert.

  • Sie fordert den Humanismus heraus – indem sie zeigt, wie tief Gewalt in uns eingeschrieben ist.
  • Sie fordert die Wissenschaft heraus – durch ihre radikale Interdisziplinarität.
  • Sie fordert die Religion heraus – indem sie deren Wurzeln in der Gewalt aufdeckt, aber auch ihren Ausweg anbietet.

Ob man Girards Theorie letztlich teilt oder nicht – sie zwingt zur Auseinandersetzung mit den dunklen Dynamiken unseres sozialen Lebens. Und genau darin liegt ihre bleibende Bedeutung.

11. Fazit

René Girards mimetische Theorie stellt eine tiefgreifende anthropologische Hypothese über die Entstehung von Begehren, Gewalt und Kultur dar. Indem sie aufzeigt, wie Nachahmung zu Rivalität und wie kollektive Gewalt zu sozialer Ordnung führt, bietet sie eine provokante Deutung menschlicher Geschichte und Religionsentstehung. Ihre Relevanz zeigt sich heute in neuen Kontexten – von politischen Konflikten bis zur Popkultur – immer dann, wenn das mimetische Begehren und seine destruktiven Potenziale sichtbar werden.

12. Literaturverzeichnis

  • Alison, James. Faith Beyond Resentment: Fragments Catholic and Gay. New York: Crossroad, 2001.
  • Girard, René. Das Heilige und die Gewalt. Zürich: Benziger, 1987 (frz. Orig.: La Violence et le sacré, 1972).
  • Girard, René. Das Ende der Gewalt. Freiburg: Herder, 1983 (frz. Orig.: Des choses cachées depuis la fondation du monde, 1978).
  • Girard, René. Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Freiburg: Herder, 2001 (frz. Orig.: Je vois Satan tomber comme l’éclair, 1999).
  • Hamerton-Kelly, Robert. The Gospel and the Sacred: Poetics of Violence in Mark. Minneapolis: Fortress Press, 1994.
  • Hamerton-Kelly, Robert. Sacred Violence: Paul’s Hermeneutic of the Cross. Minneapolis: Fortress Press, 1992.
  • Palaver, Wolfgang. René Girards mimetische Theorie: Im Kontext theologischer und gesellschaftlicher Herausforderungen. Münster: LIT Verlag, 2003.
  • Palaver, Wolfgang. Politische Philosophie im Zeichen der Gewalt: Deutungskämpfe im Anschluss an René Girard. Innsbruck: Tyrolia, 2011.
  • Schwager, Raymund. Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung im biblischen Denken. Freiburg: Herder, 1997.
  • Schwager, Raymund. Jesus im Heilsdrama: Entwurf einer biblischen Erlösungslehre. Freiburg: Herder, 1990.

Ein Gedanke zu “Die Mimetische Theorie von René Girard

  1. Zitat:

    11. Fazit

    René Girards mimetische Theorie stellt eine tiefgreifende anthropologische Hypothese über die Entstehung von Begehren, Gewalt und Kultur dar. Indem sie aufzeigt, wie Nachahmung zu Rivalität und wie kollektive Gewalt zu sozialer Ordnung führt, bietet sie eine provokante Deutung menschlicher Geschichte und Religionsentstehung. Ihre Relevanz zeigt sich heute in neuen Kontexten – von politischen Konflikten bis zur Popkultur – immer dann, wenn das mimetische Begehren und seine destruktiven Potenziale sichtbar werden.

    Kommentar:

    Gewalt von innen und aussen; dem ist der Mensch sein Leben lang ausgesetzt. Die Seele setzt den Spiegel, zwischen innen und aussen. Im Drama der Seele entsteht im Traum ein unnachahmliches Geschehen, dessen Autor der Mensch nicht selber sein kann.
    Seine Aufgabe besteht darin; das was aus dem Kern, durch die Seele vermittelt wird, sich selbst und seine Umfeld besser zu verstehen. Danach sein Handeln neu einzurichten.
    Das Begehren, die Unruhe, seit der Vertreibung aus dem Paradies bleibt bestehen. Der Schattenarbeit fordert den ganzen Menschen heraus. Sie ist nicht damit abgetan; dem Zweifler zu sagen. „Weiche von mir Satan“; danach als Opferlamm, und Sohn des Vaters in alle Ewigkeit, die Menschen von ihren Sünden zu befreien.

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