Moralische Lizenzierung oder: Warum der Mensch nach dem Salat die Currywurst verdient hat

Es ist eine seltsame Kröte, die man da schluckt, wenn man sich am Abend nach dem Yogakurs plötzlich beim Einschlafen in einer Mischung aus Selbstgerechtigkeit und Chipstüte wiederfindet. Oder beim Öffnen der Amazon-Bestellung, während man sich beim Blick auf die Freitagstasche denkt: „Aber ich kauf ja Bio!“

Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen. Das wusste schon Epikur, das ahnte Mutter Beimer, und das bestätigt nun auch – tadaa! – die psychologische Forschung. Sie nennt das Ganze „moralische Lizenzierung“, was ungefähr so trocken klingt wie ein Sojasteak nach zehn Minuten in der Pfanne. Dabei steckt dahinter ein Phänomen von herrlicher Alltäglichkeit: Wenn wir einmal etwas Gutes getan haben, fühlen wir uns ermächtigt, danach etwas Schlechtes zu tun. So wie der evangelische Kirchgänger, der sonntags spendet – und montags wieder Aktien von Rheinmetall kauft. Ist ja für die Altersvorsorge.

Der Klassiker:
Man isst mittags einen Salat (ohne Dressing! Wegen der Linie!), sagt „Nein danke“ zum Bürogebäck (Held!), fährt mit dem Fahrrad nach Hause (Al Gore knutscht innerlich mit) – und landet abends in einer Trance aus Netflix, Tiramisu und Faulenzerei. Immerhin hat man ja schon drei Mal heute die Welt gerettet. Das muss doch reichen.

Abschweifung Nr. 1: Der moralische Mensch bei Dostojewski

Es erinnert ja ein bisschen an diesen Raskolnikow-Moment bei Dostojewski, Sie wissen schon: „Schuld und Sühne“, dieses Buch, bei dem alle behaupten, sie hätten es gelesen, aber eigentlich nur die Zitate aus dem Klappentext kennen. (Ich übrigens auch.) Jedenfalls: Der Protagonist begeht einen Mord, und zwar – so meint er – im Dienste einer höheren Idee. Ein bisschen wie der moderne Mensch, der denkt, seine guten Taten von heute rechtfertigen die miesen von morgen. Raskolnikow brauchte dafür noch eine tiefenpsychologische Zerreißprobe, wir dagegen einen Latte Macchiato und ein hybrides Dienstfahrzeug.

Der gute Mensch von Prenzlauer Berg

Die moralische Lizenz ist die kleine Unterschrift unter unseren ganz persönlichen Verträgen mit dem Gewissen. Sie sagt: „Du warst heute ein guter Mensch. Jetzt darfst du ein Arschloch sein. Aber nur kurz.“

Und wehe, man widerspricht ihr.

Das Phänomen ist sogar empirisch belegt, mit echten Versuchsaufbauten, Kontrollgruppen und diesen schnieken Diagrammen, die in PowerPoint-Präsentationen immer so tun, als hätten sie die Welt verstanden. Menschen, die vorher in einem Experiment ihre moralische Integrität betonen durften („Ich bin gegen Rassismus!“), waren danach messbar voreingenommener in ihren Entscheidungen. Sie hatten sich – in gewisser Weise – moralisch freigekauft. Der Antirassist gönnt sich halt auch mal einen schlechten Witz.

Abschweifung Nr. 2: Warum Karotten orange sind (und was das mit allem zu tun hat)

Übrigens, wussten Sie, dass Karotten ursprünglich nicht orange waren? Die frühen Sorten waren eher violett, gelblich oder sogar weiß. Erst durch niederländische Züchtung – vermutlich aus monarchischer Loyalität gegenüber dem Haus Oranien – wurde die orange Karotte populär. Was das mit moralischer Lizenzierung zu tun hat? Nichts. Aber genau das ist ja das Schöne an Blogs: Sie dürfen abschweifen, solange sie so tun, als sei das intendiert. Und wer eine violette Karotte isst, fühlt sich womöglich sogar moralisch überlegen – wegen der „Biodiversität“. Da haben wir den Bogen wieder.

Moral auf Raten

Das Ganze ist ungefähr so widersprüchlich wie ein Veganer, der Lederschuhe trägt, aber mit schlechtem Gewissen. Oder wie derjenige, der seine Flugreisen mit Baumpflanzungen kompensiert – am besten retroaktiv, für die Interrail-Reise 1996.

Aber keine Sorge: Es geht nicht nur um Öko- und Ernährungsethik. Die moralische Lizenz zeigt sich auch beim Spenden, beim Helfen, beim Ankreuzen der „Ich habe die AGB gelesen“-Box. Die Lizenz ist unser mentaler Rabattgutschein: „Minus 30 % auf schlechtes Verhalten – heute nur für Dich, weil Du so brav warst!“

Und was nun?

Man kann das Ganze natürlich auch als anthropologische Notwendigkeit deuten: Der Mensch ist kein moralischer Roboter, sondern ein balancierender Trottel mit Idealen. Einer, der manchmal richtig handelt, aber es nicht aushält, dauerhaft gut zu sein. Denn das wäre ja langweilig. Oder anstrengend. Oder – Gott bewahre – konsequent.

Was hilft? Ein bisschen Selbstironie. Ein bisschen mehr Nachdenken. Und ab und zu ein Blick in den Spiegel – idealerweise nach dem Salat, aber vor der Currywurst.

Denn seien wir ehrlich: Wer glaubt, er könne sich moralisch lizensieren wie Windows 98, der wird irgendwann merken, dass die Testversion seiner Tugendhaftigkeit abgelaufen ist.

P.S. Wenn Sie diesen Text gelesen haben, dürfen Sie jetzt beruhigt jemanden im Bus ignorieren. Aber nur heute. Ihre Lizenz läuft morgen ab.

3 Gedanken zu “Moralische Lizenzierung oder: Warum der Mensch nach dem Salat die Currywurst verdient hat

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