Von denen Vampyren oder Menschensaugern

Der landläufigen Meinung nach ist ein Vampir ein Toter, der gar nicht tot ist, nachts umhersteigt und seinen ahnungslosen Opfern das Blut durch den Halse heraussaugt. So einfach ist es allerdings nicht, leider ist die Sache viel komplexer. Der Vampirismus ist nicht nur  mythologisch zu sehen, eher unter sozio-kulturellen Gesichtspunkten. Zu allem Überfluß hält er uns Menschen auch noch einen Spiegel vor und entblößt unsere eigenen diabolischen Züge mit schonungsloser Offenheit.

Keine andere mythologische Figur hat die Phantasie der Menschen so in ihren Bann gezogen wie der Vampir, betrachten wir allerdings die Vampire und die Menschen, so weiß man nicht genau, wer hier das wahre Monster ist.

II. Mythischer Hintergrund

Der Vampir entstammt der slawischen Mythologie. Leider sind keine Texte oder andere Primärquellen der Slawen erhalten, die das slawische mythologische System während des Heidentums beschreiben, da die religiöse und mythologische Entität des Heidentums im Zuge der Konvertierung zum orthodoxen Glauben zerstört wurde. Das Christentum betrachtete die heidnische Religion der Slawen als besonders gefährlich und ließ sie von klerikalen, aber auch säkularen Machthabern unnachgiebig verfolgen.

Der breiten Volksmasse allerdings gefielen diese Bestrebungen nicht so ganz und es widersetzte sich mehr als vierhundert Jahre lang. Es wurden heidnische Elemente in das Christentum eingebracht und durch das verschmelzen der heidnischen Ethik mit dem christlichen Religionsverständnis entstand so die Kirche, die wir heute russisch-orthodox nennen. Im Laufe der Zeit, etwa mit dem ausgehenden Mittelalter, verband sich das Vampir- Motiv mit christlichem Gedankengut – eine sehr widersprüchliche Beziehung entstand: Der Vampir als erbitterter Widersacher der Religion, ja eine Erscheinungsform des Satans. Und wie dieser fürchtet er das Kreuz und weicht vor Angehörigen des Klerus zurück. Andererseits mutet der blutsaugerische Akt wie eine Umkehrung der christlichen Kommunion an: Das Aufnehmen des Blutes als mythische Vereinigung – mit negativen Vorzeichen. Die Nähe des Vampir-Mythos zu ‚Schwarzen Messen‘ ist unübersehbar. (3)

Bedingt durch diese Ausgangssituation ist es natürlich schwierig, die Mythologie der Slawen genau zu rekonstruieren, stehen uns doch nur mündlich überlieferte Quellen zur Verfügung wie russische Epen, Lieder, Geschichten, Predigten oder Beschwörungen. Eher greifbar sind die schriftlich fixierten Berichte der benachbarten Völker über die Slawen, oder auch geographische Beschreibungen, Chroniken oder Werke christlicher Schriftsteller.

Die Ansichten der Slawen über die Struktur des Universums ähneln jenen anderer indoeuropäischen Nationen insofern, als daß sie das Universum in zwei Projektionen (waagerecht und senkrecht) eingeteilt betrachten. Die senkrechte Projektion ist nach dem Prinzip der Triplizität strukturiert. Die Achse der mittleren Welt war der Berg Berezan (‚Birkenberg‘) – in anderen Quellen der Belayan-Berg -, der zu der unpassierbaren Bergkette (möglicherweise Rippean) gehörte. Auf dessen Gipfel wuchs eine Birke, zu deren Fuß der „brennende Stein Alatyr“. Savrogs Gesetze sind auf ihm verewigt. Die beiden heiligen Vögel Alkonost und Sirin, die Inkarnationen des Sonnengottes und des Gottes der Unterwelt.

Der Riese Svyatogor schützt den Stamm der Birke, an deren Wurzeln die große Schlange Yusha liegt. Diese Welt wird ‚Yav‘ (‚Realität‘) genannt und von Lebewesen bewohnt, z. B. von Menschen, Tieren und Vögeln.

Der Sitz der Götter ist „Prav“, der himmlische Berg, die Fortsetzung der Erdachse. Auch auf diesem Berg wuchs ein Baum, allerdings keine Birke, sondern eine Eiche, die allerdings das Spiegelbild der Birke war und deren Wurzeln nach oben wuchsen. Die himmlische Kuh Zemun ist Quelle eines Milchstroms, der aus dem Boden der Eiche nach oben strömte.

Auch in der Unterwelt, dem „Nav“ steht ein Baum, der Trauerbaum, den entweder eine Zypresse oder eine Tanne darstellt.

Das Universum ist also in drei Teile gegliedet, die wiederum in drei Ebenen unterteilt ist. Yav wiederum ist waagerecht und in vier Teile geteilt.

Neben den Göttern, die in Prav oder Nav wohnen existieren allerdings noch zahlreiche gute und böse Geister, die unter den Menschen leben und sie beeinflussen. Als gute Geister kennen wir den domovoy (Hüter des Heimes), den dvorovoy (Geist des Hofes), der polevik (Geist der Kornfelder), der spekha (Geist, der bei Geschäften behilflich ist) oder der Iesovik (Geist des Waldes). Böse Geister sind der Kikimora (Geist der Alpträume), der Otet (Geist der Faulheit), der Chert (Teufel), der Bolotnik (Geist des Morastes), die Geister der Krankheit Ognevitza, Tryasovitza und Likhoradka, auch der Werwolf, der Oboroten, Vurdalak oder Volkodlak gehört zu diesen bösen Geistern, und natürlich auch der Upyr, die Urform des Vampirs.

Alle Zitate aus (1)

III. Der Feld-, Wald- und Wiesenvampir

Vampire können nach altem Volksglauben nur in der Nacht herumgehen, da sie die Sonnenstrahlen verbrennen würden. So ein Leben kann der gemeine Blutsauger nicht ohne menschliche Hilfe bestreiten. Deswegen macht er sich „normale“ Menschen zu Erfüllungsgehilfen. Hierbei bedient er sich zumeist der Hypnose. Wenn der Mensch seine Aufgabe erfüllt hat, lebt er sein ganz normales Leben weiter. Ein weiteres Mittel, einen Menschen an einen Vampir zu fesseln ist die sogenannte „Bluttaufe“ , dabei muß der auserwählte das Blut eines Vampirs trinken. Dadurch ist er lebenslang an den Blutsauger gebunden und muß ihm zu Diensten sein.

Dem Vampir werden viele Fähigkeiten zugeschrieben. Er kann die Gezeiten und das Wetter beeinflussen, sich in Tiere verwandeln und die Tiere der Nacht befehligen. Auch sind die steilsten und glattesten Mauern und Felsen kein Hindernis für ihn. Er kann durch die kleinsten Ritzen und Fugen schlüpfen. Auch kann er sich selbst verschwinden lassen und sich in Nebel verwandeln.

Aber der Vampir hat auch einige Handicaps. Er kann ein Haus nur dann betreten, wenn er von jemanden eingeladen wird, der sich bereits in diesem Haus aufhält, Knoblauch verjagt ihn, genauso wie Weißdorn oder wilde Rosen. Werden sie vom Sonnenaufgang in einer anderen Gestalt als der ihren überrascht, so müssen sie bis zum Sonnenuntergang in dieser Gestalt bleiben. Alles heilige verjagt oder tötet sie, so kann er zum Beispiel keine Kirche betreten, da diese ja geweiht ist. In der Umkehrung bevorzugen Vampire profanierte Kirchen. Auch fließendes Wasser soll sie töten.

Die älteste und wohl bekannteste Methode, einen Vampir zu töten ist das Pfählen. Man spürt den Blutsauger auf und rammt ihn (am besten wenn er schläft, also bei Tag) einen Pflock in das Herz, hernach schneidet man ihm den Kopf ab und füllt seinen Mund mit Knoblauch, daraufhin kann er kein Unheil mehr anrichten. Weiterhin kann man ihn einfach während seines Schlafes am Tage ans Sonnenlicht bringen, welches ihn verbrennt.

Eine der ältesten Überlieferungen des Vampir-Mythos ist folgende: Ein Mädchen soll verheiratet werden und in der Nacht vor der Hochzeit holt sie ihr Bräutigam zu Hause ab und führt sie in ihre neue Heimat. Auf ihren Weg kommen sie an einigen Gottesäckern vorbei und der Mann hält bei jedem an, um etwas zu erledigen. Beim dritten Kirchhof dauert es der jungen Braut zu lange und sie schleicht ihrem Bräutigam hinterdrein. Zu ihren Entsetzen sieht sie den Mann, wie er eine Leiche zerreißt und sich an ihr gütlich tut. Zu tote erschrocken kehrt die Braut zur Kutsche zurück, um ihren Mann zu erwarten. Seine erste Frage war, ob sie irgend etwas gesehen habe, was sie verneinte.

Als sie in ihrem neuen Heim angekommen waren, ging der Mann auf die Jagd, avisierte allerdings seiner Frau den Besuch seiner Familie. Zuerst erschien der Bruder, die Schwester, die Tante. Ihnen gegenüber konnte sie noch ihr schreckliches Erlebnis verheimlichen. Dann kam die Mutter des Bräutigams und bei ihr erleichterte das Mädchen ihr Herz und erzählte ihr von den Vorgängen, die sie beobachtet hatte. „Hast du das alles gesehen?“ fragte sie darauf hin die Mutter. Das Mädchen bejahte dies und da sagte die Mutter wieder: „Dann werde ich dich auch zerreißen.“ Und sie zerriß die Braut in tausend kleine Stücke und labte sich an ihr, denn es war der Vampir, der in der Gestalt seiner Mutter dem Mädchen das Geständnis entlockte.

IV. Vom realexistierenden Vampirismus

Wie vorstehend beschrieben ist der Glaube an den Vampir in der Volksseele der slavischen Ostvölker tief verwurzelt (die aus der griechischen Mythologie bekannten „Lamien“ bilden wohl eher einen Ausnahmefall). Es gab allerdings auch „medizinische“ Beweise für die Existenz der Vampire.

In früherer Zeit war es nicht üblich, die Toten tief in der Erde zu bestatten. Maximal 50 cm bis einem Meter tief wurden die Leichen verscharrt. Nun kam es vor, daß man aus den Gräbern ein Kauen und Schmatzen hörte. Öffneten die verschreckten Hinterbliebenen dann das Grab, so fanden sie dort Leichen mit rosiger Gesichtsfarbe, langen Haaren und langen Fingernägeln, neuer Haut; bei männlichen Leichen war der Penis stark erigiert. Für die unbedarften Menschen war damit natürlich alles klar: Der Vampir geht um!

Die Erklärung ist für die moderne Medizin allerdings ganz einfach und es handelt sich hierbei um ganz normale biologische Vorgänge, die eines Tages bei jedem von uns eintreten werden. Der Eindruck der Gewichtszunahme bei zu Lebzeiten mageren Menschen hängt mit den Fäulnisgasen zusammen, die bei der Zersetzung des Körpers durch Bakterien entstehen, sie sammeln sich unter der Haut und so entsteht der Eindruck, der Tote hätte Gewicht zugelegt.

Die neue Haut erklärt sich auch durch die Fäulnisgase. ‚Die Fäulnisgase pressen Flüssigkeit unter die Oberhaut, die mit den Nägeln in Blasen abgeht‘, erklärt der Gerichtsmediziner Dr. Reiter. ‚Darunter erscheint die Lederhaut wie eine neue Haut, und die leeren Nagelbetten sehen so aus, als würden sich neue Nägel gebildet haben. (2)

Auch der erigierte Penis ist auf diese Gase zurückzuführen. ‚Die großen Gasansammlungen in der Bauchhöle führen dazu, daß Gas unter die Penishülle tritt … Und diese Strukturen werden ballonartig überdimensional vergrößert, sie imponieren unerfahrenen Personen als Erektion‘ (2).

Das Schmatzen kommt von der Fäulnisflüssigkeit und den Fäulnisgasen, die aus dem Körper austreten. Wird so eine Leiche dann nun gepfählt, so spritzt diese Fäulnisflüssigkeit, die mit dem im Körper verbliebenen Blut vermischt ist, aus der Wunde, in die der Pflock getrieben wird. Durch den Druck spritzt die Flüssigkeit auch aus den Gesichtsöffnungen.

Nicht pietätvoll, dafür anschaulich: Ein Leichnam verhält sich wie ein faulender Kürbis, in den man zwei, drei kleine Öffnungen sticht. Aus den Stichöffnungen tritt mit den Fäulnisgasen auch ein fauliger Sirup. Und wenn man sich die Mühe machen würde, in eines der Löcher einen Strohhalm zu stecken, würde man ein Geräusch hören, das dem Gurgeln der Flüssigkeit in den Atemwegen verwandt ist. (2)

Für einen Mediziner und einen Gerichtsmediziner ein ganz normaler Vorgang, der auf die Menschen im 16./17. Jahrhundert natürlich beängstigend wirkte. Dazu noch die „Vorbildung“ durch den Volksglauben und die orthodoxe Kirche, und fertig ist die beste Vampirhysterie.

Noch dazu die Tatsache, daß diese Leichen fast unverwest im Grabe lagen (ein Attribut das eigentlich nur Heiligen zugestanden wird) und schon schnitzt der Dorfpfarrer den Holzpflock. Dabei kommt dieses Phänomen nur daher, daß im Sarg unter der Erde die Sauerstoffzufuhr stark vermindert ist.

V. Dracula – Der Vater aller Vampire

Horum Tyrannum Draculum nomine, quo ipsi demonem appellant. So schrieb der päpstliche Legat in Buda Nikolaus von Modrussa über den historischen Dracula. Wer war er aber, und wie wurde er zum „Urvater“ aller Vampire?

Der  illustris Princeps dominus Vlad, Woywoda Transalpinensis wurde um 1430 in Schäßburg (Siebenbürgen) geboren, wo seine Familie im Exil lebte. Jahrelang taktierte der grausame Patriot zwischen dem ungarischen König Matthias Corvinus und dem osmanischen Sultan um seine Unabhängigkeit. Erstmals regierte er die Walachei von 1456 bis 1462, führte seine Bauernhaufen mit beachtlichem Erfolg gegen türkische Armeen. Dann wird er auf Befehl von Corvinius auf die Hochburg Cisegrád nach Ungarn gebracht. Ob in Ehren, als Fürst unter Hausarrest oder als Gefangener mit Keller-Logis, kann heute niemand mit Bestimmtheit sagen. Daß sein Name sich auf der Häftlingsliste des Verlieses im Salomonturm findet, ist eine Fiktion. Von der Burg an der Donau existieren heute nur noch Ruinen. (2)

Der Wojwode wird wieder frei gelassen und erhält 1476 die Herrschaft über die Walachei zurück. 1477 wird Vlad ermordet. Sein Kopf soll der Legende nach in Honig konserviert worden sein und dem osmanischen Sultan Mehmed II. zum Geschenk gemacht worden sein. 1936 wurde das Grab des rumänischen Nationalhelden auf der Insel im Snagov-See nochmals eröffnet. Gefunden wurde ein prächtig geschmücktes Skelett. Ob es tatsächlich Vlad ist, wissen wir allerdings nicht.

Wovon wir allerdings berichten können ist die brutale Grausamkeit, mit der Vlad gegen seine Feinde vorging. Es wird erzählt, daß er Zigeuner gezwungen hatte, sich gegenseitig zu töten, zu kochen und aufzuessen. Auf seinen Feldzügen hinterließ er Wälder von Gepfählten. Mehmed der Eroberer will 1462 mit seinem Herr bei der walachischen Hauptstadt Tirgoviste an 20.000 aufgespießten Türken und Bulgaren vorbeimarschiert sein. ‚Unter diesen Schlachtopfern des Despotismus befanden sich Säuglinge, von der Mütter Brüsten weggerissen, in deren Unterleibe jetzt die Vögel nisten‘, berichtete ein byzantinischer Historograph. (2)

Diese Taten brachten ihn auch den Beinamen „Tepes“ bei. Dies bedeutet soviel wie „der Pfähler“. Als Titel führte er „Draculea“, nach dem zum Kampf gegen die Türken gegründeten Drachenorden.

Während der sozialistischen Diktatur in Rumänien wurde Vlad Tepes zum Volkshelden hoch stilisiert, er galt als großer Staatsmann und Feldherr, der seine rumänische Heimat vor den Türken gerettet hatte.

VI. Stoker, Dracula und ein Mythos

Bram Stoker, oder eigentlich Abraham Stoker, der Vater des romantischen Vampir-Motives, wurde im irischen Clontarf geboren. Im nahegelegenen Dublin besuchte er die Universität und verdingte sich als Theaterkritiker und Herausgeber von Zeitschriften. Diese Zeit war für Stoker geprägt von Entbehrungen. Dies besserte sich erst, als er Manager einiger berühmter Schauspieler wurde.

„Dracula“ war der einzige Roman Stokers, der international bekannt wurde. Seine anderen Werke standen immer im Schatten des Vampirs, obwohl diese auch bemerkenswert und lesenswert sind. Mit diesem Roman [Dracula] schrieb er sich ein Kindheitstrauma von der Seele. Durch eine schwere Krankheit war er die ersten sieben Jahre seines Lebens ans Bett gefesselt. Seine späteren bemerkenswerten sportlichen Erfolge auf der Universität und seine geistreichen Kritiken waren ihm psychische Krücken, auf die er erst nach der Niederschrift seines Dracula-Romans nicht mehr angewiesen war. Endlich war ihm auch der seelsiche Ausbruch aus der Gefangenschaft der Krankheit und die Hinwendung zur Normalität der physisch Gesunden gelungen. Nicht nur im Publikumserfolg fand er Bestätigung, sondern seine von ihm selbst geschaffene Figuren bewiesen ihm, daß Leiden und Unterwerfung durch Willenskraft und die Hilfe von Freunden überwunden werden können. (3)

Stokers „Dracula“ basierte auf scheinbar nachweisbaren Fakten. Es gibt Tagebücher, genaue Orts- und Zeitangaben, sowie eine historische Persönlichkeit, über die man in jedem Konversations-Lexikon nachlesen konnte. Dieser Schachzug erlaubte es Stoker, seinen Roman in Anlehnung an die übertrieben moralische Sittenstrenge des viktorianischen Englands zu verfassen. Auch die Einführung des Dr. van Helsing als positiven Gegenspieler des Bösen trug einiges zum Erfolg des Romans bei. Er, der erfahrene alte Wissenschaftler, ja der Merlin des Romans, schart Lord Godalming Quincy Morris James Seeward und Jonathan Harker  um sich, die sich heldenmütig gegen das Böse in  Gestalt des Grafen Dracula zur Wehr setzen und die Ehre, ja die Jungfräulichkeit der Mina Harker verteidigen. Eine weitere Allegorie ist natürlich auch schon der Name des Negativ-Helden: Dracula: der Drache. Mina Harker und ihre Freundin Lucy Westenra stellen sich als Jungfrauen freiwillig zur Verfügung und geraten in die Gewalt des Drachen, aus der sie die vorgenannte parsivalische Gruppe junger Gralsritter um den greisen König Artus (oder Merlin!?), der sie leitet und berät, befreien muß. Der Roman kann nun mit beträchtlichem Vergnügen als eine Abenteuererzählung gelesen werden, die eine ähnliche Struktur wie die galanten Romanzen aufweist, und ich möchte behaupten, daß Stoker diese Parallelen bewußt und voller Stolz eingearbeitet hat. Dracula würde jedoch kaum der gewaltige Roman sein, den er darstellt, wenn dies alles wäre, was er uns bietet. Um zu erkennen, was mehr daran ist, müssen wir in dem Roman das sexuelle Gleichnis erkennen, das unter der Oberfläche der Handlung lauert. (4)

Ein weiterer Aspekt, welcher den Roman so erfolgreich machte, war natürlich die unterschwellige Erotik und auch Frivolität, die im sittenstrengen viktorianischen England das äußerste war, was die Sittenwächter zuließen.

Sexualität ist der Kern des Themas, und nicht Liebe, galante Pilgerfahrt, Heldentum oder spannendes Abenteuer. Den Methoden auf den Grund zu kommen, mit denen Stoker seinen Stoff intuitiv oder unbewußt beeinflußt, um dieses Gleichnis zu erschaffen, macht es erforderlich, an eine Unterscheidung Carl Jungs zwischen einem psychologischen und einem visionären Roman zu erinnern. Jung vertrat die Ansicht, daß ‚die psychologische Methode sich mit aus dem menschlichen Bewußtsein geschöpften Stoff befaßt… Alles, was sie umfaßt, gehört zum Bereich des Verständlichen.‘ (4)

Es soll natürlich nicht der Eindruck entstehen, daß Stokers Roman ein viktorianischer Softporno ist, sondern vielmehr spielt der Autor mit einer unterschwelligen Erotik und Sexualität mit einer Eleganz, aber auch Selbstverständlichkeit, die diesen Roman aus der Flut der Vampir-Romane und –Erzählungen herausragen läßt. Viele große Schriftsteller haben sich des Vampir-Motivs angenommen. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (Cyprians Erzählung), William Polidori (Der Vampyr), Heinrich Heine (Helena; Die Beschwörung), Johann Wolfgang von Goethe (Die Braut von Korinth), Nikolai Gogol (Der Wij), A. K. Tolstoi (Der Vampir) oder Charles Baudelaire (Der Vampir; Die Verwandlungen des Vampirs) seien hier nur als Beispiele genannt, die modernen Romane, die in den letzten Jahren auf den Buchmarkt gebracht wurden, seien hier ausgeklammert, da ihre Zahl zu groß ist. Aber nur Stokers „Dracula“ machte das Vampir-Motiv derart populär, daß er auch noch heute der meistgelesenen Vampir-Roman ist. Dieser Roman hat die Phantasie der Menschen angeregt. Diese Mischung aus viktorianischer Prüderie und unterschwelliger Erotik und Sexualität macht seinen großen Erfolg, auch heute noch, aus.

Nachdem 1922 der Film „Nosferatu“ den Stoker-Roman als Vorlage nahm, inszenierte Hamilton Dean ein Theaterstück mit dem Dracula-Motiv. Ihm schlossen sich zahlreiche Theaterstücke und Kinofilme mit wechselndem Niveau an. Einen Tiefpunkt der cinematographischen Verarbeitung stellen die Filme der „Hammer-Production“ dar, obwohl die beiden Hauptdarsteller Christopher Lee als Dracula und Peter Cushing als Dr. van Helsing ihr bestes gaben.

VII. Sozio-kulturelle Betrachtung des Vampir-Phänomens

Es ist unsere westliche Kultur, für die tägliche Talkshows und die Schlagzeilen der Yellow-Press zur ultimativen Realität werden, an der das Alltagsleben gemessen wird. Sie ist besessen von den Medien und giert nach einer Selbstdramatisierung und ganz „normale“ Menschen würden alles dafür tun, um im Rampenlicht zu stehen. So verwundert es auch nicht, daß in den USA Talkshows von Menschen besucht werden, die sich tatsächlich für Vampire halten, ja sogar Blut trinken. In den letzten Jahren ist eine Renaissance des Vampir-Mythos zu erleben, der nicht nur durch die Verfilmung des Stoker-Romans durch Francis Ford Coppolla eingesetzt hat. Die Romane von Anne Rice oder Barbara Hambly haben dazu beigetragen. Sind diese literarischen Berichte qualitativ hochstehend, so ist doch eine inflationäre Entwicklung aus den USA zu betrachten, die den Vampir-Mythos verkitschen und seiner realmythologischen und historischen Bedeutung nur schaden.

Der Vampirismus, respektive der Vampir-Mythos, entstanden aus dem im östlichen Europa weit verbreiteten Aberglauben, der gepaart mit dem russisch-orthodoxen Christentum zu einem tief verwurzelten Volksglauben wurde. Die von Sigmund Freud begründete Psychologie spricht oft von der Verleugnung eines undenkbaren Übels, oder von einem Verlagern der Ängste. Ängste, die die Form eines abscheulichen Monsters annehmen, dem man die grauenhaftesten menschlichen Attribute zuschreiben kann. Bei Geschehnissen und Verbrechen, von denen man sich nicht vorstellen konnte, daß ein Mensch diese begangen hat, beschuldigt man einfach irgendwelche Hexen, Monster, Werwölfe oder den Vampir. Der westlich-aufgeklärte Menschenverstand alleine müßte uns sagen, daß diese Legenden, diese unverifizierbaren Märchen einfach lächerlich sind. Aber trotz dieser Argumentation des aufgeklärten Geistes bleiben diese Erzählungen unverifizierbar und daher wahr in dem Sinne, in dem man sie für wahr hält.

In der mythologischen Figur des Vampirs begegnen wir uns selbst, und wir sind unser schlimmster Alptraum. Sämtliche negativen Seiten des Menschen werden auf diverse Geister und Gespensterwesen projiziert, die dann die Schuld auf sich nehmen müssen. Das schlimmste Wesen ist allerdings der Mensch selbst. Hier liegt auch einer der größten Anziehungspunkte. Der Vampir hält uns den Spiegel vor, wir erkennen uns in dem Blutsauger selbst, er ist unsere dunkle Seite, von der wir uns enorm angezogen fühlen.

VIII. Literatur

Zitierte Literatur

  1. Lexikon der Weltmythologie. – Planegg, 1997 (CD-Rom)
  2. Schatzsucher, Ritter und Vampire. – München, 1995
  3. Stoker, Bram: Dracula. – Berlin, 1990
  4. Das beste von Dracula. – Bergisch-Gladbach, 1992

Weiterführende und benutzte Literatur

Barnaure, Mircea: Der Name Dracula. – Unkel, 1993
Das beste von Dracula. – Bergisch-Gladbach, 1992
Brittnacher, Hans R.: Ästhetik des Horrors. – München, 1994
Gespensterbuch. – München, 1992
James, Montague R.: Dreizehn Geistergeschichten. – München, 1990
Künstliche Menschen. – München, 1994
Lexikon der Weltmythologie. – Planegg, 1997 (CD-Rom)
Schatzsucher, Ritter und Vampire. – München, 1995
Schneidewind, Friedhelm: Carmilla … und es gibt sie doch. – Saarbrücken, 1994
Schwarze Messen. – München, 1994
Stoker, Bram: Dracula. – Berlin, 1990
Stoker, Bram: Draculas Gast. – Zürich, 1974
Stoker, Bram: Im Haus des Grafen Dracula. – München, 1993
Stoker Bram: Im Schatten der Vampire. – Bergisch-Gladbach, 1993
Von denen Vampiren. – München, 1994
Werwölfe und andere Tiermenschen. – München, 1994
Wharton, Edith: Gespenstergeschichten. – München, 1991

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