Es ist eine seltsame, fast schon abenteuerliche Liaison zwischen zwei Männern, die das geistige und kulturelle Klima ihrer Zeit prägen sollten: Johann Wolfgang von Goethe, der allseits gefeierte Dichter, Naturforscher und Universalgenie, und Rudolf Steiner, der spirituelle Gründer der Anthroposophie, einer der kurioseren philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Die Verbindung zwischen diesen beiden Gestalten geht weit über den reinen Einfluss hinaus. Sie ist ein Spiegelbild jener seltsamen Umdeutung, die in den nebulösen Bereichen von Pseudowissenschaft und Spiritualität immer wieder stattfindet. So wie man in einem Spiel von Schatten und Licht die Konturen der Figuren zu erkennen meint, so lässt sich auch hier eine bestimmte, einseitige Huldigung Goethes als Vorreiter antirationaler Gedanken in der Anthroposophie erkennen. Doch während Goethe als ein Mensch von Maß und Tiefe in seiner Auseinandersetzung mit der Welt strahlte, wendet Steiner diese geistige Energie in eine Richtung, die den Horizont nicht erweitert, sondern in die Irre führt.
Goethes Naturforschung: Genial oder dilettantisch?
Beginnen wir zunächst bei Goethe, dessen naturwissenschaftliche Arbeiten bis heute vielfach ein Rätsel darstellen. In seinem Bild als Dichter und Denker der Aufklärung glänzte Goethe durch den subtilen Umgang mit den menschlichen Grundfragen und den großen metaphysischen Themen. Doch seine naturwissenschaftlichen Forschungen, die vielfach als Durchbruch zu einer neuen Wahrnehmung der Welt dargestellt werden, sind aus heutiger Sicht wenig mehr als ein unkoordiniertes Sammelsurium von Eindrücken und Hypothesen, die weder eine systematische Grundlage noch die erforderliche Präzision aufwiesen, um als ernsthafte Wissenschaft zu gelten.
Goethes „Farbenlehre“ etwa, in der er die Welt der Farben nicht als physikalisches Phänomen, sondern als ein Produkt des subjektiven Erlebens betrachtet, ist ein erschreckendes Beispiel für den Überschwang eines Genies, das nicht in den gewohnten Bahnen der Wissenschaft arbeiten konnte. Wer sich heute mit den Erkenntnissen der modernen Physik oder Farbtheorie auseinandersetzt, kann nur mit Staunen auf Goethes Thesen blicken, die von der Realität der Lichtbrechung oder den Gesetzmäßigkeiten der Spektralanalyse weit entfernt sind. Doch Goethe war, wie so viele große Denker seiner Zeit, von einer festen Überzeugung geprägt: die Welt müsse in einem ganzheitlichen Ansatz begreifen werden. Er glaubte, dass die Natur und der Mensch in einem höheren Zusammenhang stünden, den es zu verstehen gelte – nicht durch bloße Analyse und Mechanik, sondern durch ein intuitives Erfassen.
Goethe wollte mehr als ein Wissenschaftler sein. Er wollte der Schöpfer einer neuen Weltanschauung sein, die die Menschen mit der Natur in Einklang brächte. Doch leider verließ er sich dabei auf seine poetische Phantasie und seine subjektiven Wahrnehmungen. So entstanden seine Naturforschungen – wie etwa die „Metamorphose der Pflanzen“ oder seine Arbeiten zur Morphologie – als weitgehend spekulative Versuche, die auf dem Felsen der empirischen Wissenschaft nicht recht Halt finden konnten.
Rudolf Steiner und die Geburt der Anthroposophie
Nun kommen wir zu Rudolf Steiner, der die Ideen Goethes nicht nur bewunderte, sondern sie als Fundament seiner eigenen spirituellen Lehren aufbaute. In seiner anthroposophischen Bewegung verband er Goethes naturphilosophische Visionen mit einer Reihe von okkulten und spirituellen Praktiken, die die Welt auf eine völlig neue Weise erklären sollten. Steiner selbst verstand seine Anthroposophie als eine „wissenschaftliche“ Spiritualität, als eine Methode, die es dem Menschen ermöglichen sollte, den Geist der Welt zu erkennen. Und was war die Grundlage dieser „Wissenschaft“? Genau – Goethes Naturforschung. Denn, so der anthroposophische Glaube, Goethes intuitive und mystische Herangehensweise an die Natur sei die wahre Wissenschaft, die der Mensch in seiner „Gegensatzwelt“ aus Materie und Geist wiederfinden könne.
Doch die Anthroposophie ist, entgegen Steiners Behauptung, keineswegs eine Wissenschaft. Sie ist vielmehr ein Sammelsurium aus vagen spirituellen Andeutungen, esoterischen Theorien und unausgegorenen Hypothesen. Die anthropozentrische Weltanschauung, die Steiner propagierte, stellt den Menschen als das Zentrum der Schöpfung dar und suggeriert, dass der Mensch durch das Streben nach höheren spirituellen Erkenntnissen seine innere Göttlichkeit wiederentdecken könne. Es ist eine Weltanschauung, die von der realen Welt flieht, sie nicht versteht und daher auch keine Lösungen für die drängenden Probleme der Menschheit bietet. Im besten Fall ist sie ein Rückzug in einen esoterischen Schlaraffenland, im schlimmsten Fall eine verführerische Lehre, die an den wahren Bedürfnissen des Menschen vorbeigeht.
Steiner übernahm von Goethe die Vision eines ganzheitlichen Verständnisses der Welt, doch während Goethe mit seiner Naturbetrachtung eine tiefe Auseinandersetzung mit der Materie und den Kräften der Natur suchte, geht Steiner noch weiter und übersetzt alles in eine pseudospirituelle Sprache. Er spricht von „geistigen Welten“, von „übersinnlichen Wahrnehmungen“, von „Erscheinungen“ und „Wesenheiten“, die sich jenseits der menschlichen Wahrnehmung verbergen, aber dennoch mit den Kräften des Universums verbunden sind. Die Vorstellung, dass es solche Welten gibt, mag für den einen oder anderen ein verlockender Gedanke sein, aber als ernsthafte Theorie fällt sie unter den Bereich der Fantasie.
Die problematische Verehrung Goethes in der Anthroposophie
Die Verehrung Goethes in der Anthroposophie zeigt sich vor allem in der Art und Weise, wie Steiner Goethes Weltanschauung instrumentalisierte. Steiner sah in Goethes Ansätzen, das Mystische und das Wissenschaftliche zu vereinen, die Grundlage für seine eigene Lehre. Doch dabei übersah er die Begrenzungen und Schwächen Goethes, die in seiner oft unsystematischen Herangehensweise an die Natur und der Überhöhung der Intuition als Erkenntnismethode zum Vorschein kommen. Diese Intuition, so schön sie in der Literatur und Kunst auch sein mag, führt in der Wissenschaft zu Trugschlüssen und unhaltbaren Hypothesen.
Goethe hatte zweifellos die Fähigkeit, in poetischer Weise über die Welt nachzudenken und zu schreiben. Aber seine wissenschaftlichen Arbeiten waren im Grunde genommen ein Ausflug in den Bereich des Spekulativen, ein Bereich, der oft den schmalen Grat zwischen Vision und Irrtum überschreitet. Und genau hier liegt das Problem, das auch die Anthroposophie von Steiner prägte. Beide – Goethe und Steiner – scheinen sich nicht um die Strenge der Wissenschaft zu kümmern, sondern suchen nach einer höheren Wahrheit, die sich nicht durch den Verstand erfassen lässt, sondern durch das „spirituelle“ Auge, das nur wenige Auserwählte besitzen.
Zwischen Dilettantismus und Pseudowissenschaft
Die Bezeichnung „Goethe für Anthroposophen“ könnte leicht als eine Art religiöser Ikonisierung missverstanden werden. Denn was Steiner vollbrachte, war nicht die objektive Interpretation von Goethes Arbeiten, sondern deren Dekonstruktion in einen irrationalen Rahmen, der jede Form von Logik, Wissenschaft und kritischem Denken ablehnt. Die Anthroposophie ist nicht das Produkt eines höheren spirituellen Wissens, sondern das Ergebnis eines ideologischen Missverständnisses von Goethes eigener Auseinandersetzung mit der Welt.
Es bleibt zu konstatieren, dass sowohl Goethes Naturwissenschaften als auch Steiners Anthroposophie den Rahmen der rationalen, empirischen Wissenschaft weit überschreiten und sich als spekulative Gebilde präsentieren, die von einer wahren wissenschaftlichen Grundlage weit entfernt sind. Die Anerkennung von Goethes poetischem Genius steht in keinem Verhältnis zu der unrealistischen Verehrung seiner naturwissenschaftlichen „Errungenschaften“, ebenso wie die Anthroposophie eine für die Menschheit nicht funktionale und oft schädliche Verirrung darstellt.