Einleitung
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Alliierten vor der Herausforderung, Millionen ehemaliger NS-Angehöriger zu entnazifizieren, während zugleich Fluchtrouten von hochrangigen NS-Funktionären und SS-Mitgliedern ins Ausland führten. In diesem Kontext entstanden Gerüchte über geheime Netzwerke wie die sogenannte „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“ (ODESSA). Im Gegensatz zu dieser angeblichen Geheimgesellschaft existierte mit der HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS) eine reale, wenn auch umstrittene Veteranenorganisation, die aktiv an der geschichtspolitischen Rehabilitierung der Waffen-SS arbeitete. Dieser Artikel untersucht die Entstehung, Zielsetzung und Wirkung beider Organisationen aus wissenschaftlicher Perspektive.
1. Die Legende von ODESSA – Ursprung, Kontexte und historiographische Bewertung
1.1 Begriff und Ursprünge
Die Bezeichnung „ODESSA“ steht für „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“. Der Begriff trat erstmals in der unmittelbaren Nachkriegszeit in verschiedenen Zeugenaussagen und Gerüchten auf, vor allem im Zusammenhang mit der Flucht prominenter NS-Kriegsverbrecher aus Europa nach Südamerika und in den Nahen Osten. Eine gesicherte zeitgenössische Selbstbezeichnung durch beteiligte Personen existiert jedoch nicht. Die Annahme einer zentral gesteuerten Organisation unter dem Akronym ODESSA ist nicht durch belastbare Primärquellen gedeckt.
Die öffentliche Vorstellung einer solchen Organisation wurde besonders durch die Arbeit des österreichisch-jüdischen NS-Verfolgers Simon Wiesenthal verbreitet. In seinen Memoiren beschrieb er ODESSA als eine geheime SS-Verschwörung mit weitreichenden Verbindungen zu Regierungen, Kirchen und internationalen Unternehmen, die systematisch Fluchthilfe für untergetauchte Nazis organisierte.
1.2 Realhistorische Kontexte: Fluchtrouten und Unterstützungssysteme
Zwar ist die Existenz einer Organisation namens ODESSA nicht belegbar, jedoch gab es tatsächliche Netzwerke, Strukturen und Akteure, die den Fluchtweg vieler Nationalsozialisten ermöglichten:
a) Rattenlinien (Ratlines)
Hierbei handelt es sich um Fluchtrouten über Italien und Spanien nach Südamerika, insbesondere nach Argentinien, Chile, Paraguay und Brasilien. Über kirchliche Einrichtungen in Genua und Rom – etwa das päpstliche Flüchtlingswerk – gelangten viele NS-Täter mit gefälschten Papieren auf Schiffe Richtung Übersee.
b) Kirchliche Netzwerke und Einzelakteure
Besonders hervorzuheben ist Bischof Alois Hudal, ein österreichischer Kleriker mit Sympathien für den Nationalsozialismus. Hudal war Rektor des „Collegio di Santa Maria dell’Anima“ in Rom und vermittelte zahlreichen NS-Kriegsverbrechern neue Identitäten und Papiere – unter anderem für Adolf Eichmann, Josef Mengele und Franz Stangl. Hudal rechtfertigte seine Handlungen später mit einem angeblichen christlichen Gebot zur „Vergebung“.
c) Rolle des Internationalen Roten Kreuzes und des Vatikans
Durch strukturelle Schwächen und geringe Überprüfungsmöglichkeiten war es in der unmittelbaren Nachkriegszeit möglich, unter falschem Namen Pässe und Reisedokumente über das Internationale Rote Kreuz zu erhalten. Mehrere NS-Verbrecher nutzten dies zur legalen Ausreise nach Südamerika. Der Vatikan wiederum war in Teilen zumindest indirekt beteiligt, teils aus antikommunistischer Motivation heraus.
d) Geheimdienstliche Unterstützung
In vereinzelten Fällen förderten westliche Geheimdienste (z. B. CIA, BND-Vorläufer „Organisation Gehlen“) die Integration ehemaliger SS-Angehöriger – sei es wegen ihres Fachwissens oder im Kontext des Kalten Krieges. Dies geschah etwa bei ehemaligen Mitgliedern der „Fremde Heere Ost“ oder anderer militärischer Nachrichtendienste der Wehrmacht.
1.3 ODESSA als Mythos und Konstruktion
Der Begriff „ODESSA“ fungiert – in Anlehnung an Jan Assmanns Begriff des „kommunikativen Gedächtnisses“ – weniger als historische Bezeichnung denn als narrativer Container: Er bündelt komplexe und fragmentierte Informationen zu einer kohärent wirkenden Erzählung. Die Behauptung einer zentral gesteuerten Geheimorganisation ermöglichte es, die Widersprüchlichkeit der Nachkriegszeit – etwa das Überleben und die Flucht von NS-Verbrechern trotz alliierter Kontrollsysteme – in eine einprägsame, verschwörungsnahe Erzählung zu fassen.
Forscher wie Guy Walters oder Richard Breitman bezeichnen ODESSA als „historischen Mythos“, der aus realen Fluchthilfen, verbunden mit Medienkonstruktionen und fiktionaler Verarbeitung, eine Legende formte.
1.4 Populärkultur und ihre Wirkung
Ein entscheidender Popularisierungsschub für die ODESSA-Legende ging von Frederick Forsyths Bestseller The Odessa File (1972) aus, der 1974 verfilmt wurde. Der Roman schildert eine weltumspannende, streng konspirative Organisation ehemaliger SS-Offiziere, die sich in den Nachkriegsjahren gegenseitig schützt und unter neuen Identitäten in einflussreiche Positionen gelangt. Diese Darstellung prägte nachhaltig das öffentliche Bild von ODESSA.
Auch in Dokumentarfilmen, wie etwa in Produktionen von ARD oder BBC, wurde der Begriff ODESSA häufig ohne kritische Differenzierung verwendet. Er entwickelte sich zu einem Synonym für das Unfassbare: dass so viele Täter des Holocausts der Justiz entgingen.
1.5 Historische Bewertung durch die Forschung
Heute gilt in der zeithistorischen Forschung als weitgehend gesichert:
- Es existierten zahlreiche Fluchtrouten für NS-Täter.
- Diese wurden durch ein Netzwerk aus Einzelpersonen, kirchlichen Institutionen, ehemaligen Kameraden und manchmal auch Geheimdiensten ermöglicht.
- Es gab jedoch keine übergeordnete, zentral organisierte „ODESSA“ im Sinne einer international koordinierten Geheimgesellschaft.
Wissenschaftler wie Klaus-Michael Mallmann, Stefan Rinke, Peter Hammerschmidt und Martin Cüppers verweisen darauf, dass die Vorstellung einer organisierten ODESSA oft einer verkürzten Erklärungsmusterlogik folgt – ähnlich wie andere Verschwörungserzählungen: Sie bieten einfache Antworten auf komplexe historische Entwicklungen.
Fazit zum ODESSA-Komplex
Der Mythos ODESSA fungiert retrospektiv als ein Symbol für das Scheitern der Entnazifizierung, für die ambivalente Haltung vieler Nachkriegsgesellschaften gegenüber NS-Verbrechern – und für das anhaltende Bedürfnis nach Aufklärung über die Grauzonen der Nachkriegszeit. Während reale Hilfsstrukturen nachgewiesen sind, bleibt die Vorstellung einer homogenen Geheimorganisation Teil einer erinnerungskulturellen Fiktion, die mehr über die Gesellschaft der Rezipienten als über die Täter selbst aussagt.
2. Die HIAG: Revisionismus, Veteranenlobby und geschichtspolitische Einflussnahme im Nachkriegsdeutschland
2.1 Gründung und ideologisches Fundament
Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS (HIAG) wurde im Jahr 1951 in Karlsruhe gegründet. Zu den maßgeblichen Initiatoren zählten hochrangige ehemalige Waffen-SS-Offiziere wie Paul Hausser, Félix Steiner, Otto Kumm und Kurt Meyer. Ihr Ziel war es, die Waffen-SS als legitimen Teil der deutschen Wehrmachtstradition zu rehabilitieren und deren Mitglieder gesellschaftlich sowie juristisch gleichzustellen.
Die HIAG war nicht nur eine Veteranenvereinigung, sondern verfolgte von Anfang an eine geschichtspolitische Agenda, die sich auf mehrere Ebenen erstreckte:
- Rehabilitierung der Waffen-SS im öffentlichen Diskurs
- Gleichstellung ihrer Mitglieder mit Wehrmachtsveteranen im Sozialrecht
- Revision der NS-Vergangenheit durch gezielte Geschichtsumdeutung
- Einflussnahme auf Politik, Medien und Wissenschaft
Zentrale ideologische Grundlage war die Behauptung, die Waffen-SS sei eine rein militärische, „unpolitische“ Eliteeinheit gewesen, die sich durch Tapferkeit, Disziplin und Opferbereitschaft ausgezeichnet habe – eine Darstellung, die in scharfem Kontrast zur historischen Forschung steht.
2.2 Aufbau und Struktur
Die HIAG war föderal organisiert, mit einem Bundesvorstand und Landes- bzw. Kreisgruppen, und verfügte über eine beachtliche Mitgliederzahl. In den 1950er-Jahren hatte die Organisation schätzungsweise rund 40.000 Mitglieder, was sie zur größten und einflussreichsten SS-Veteranenvereinigung in der Bundesrepublik machte. Formal distanzierte sich die HIAG vom Nationalsozialismus, doch viele ihrer Publikationen und Aussagen zeugen von einem verherrlichenden, apologetischen Umgang mit der NS-Zeit.
Zudem pflegte die HIAG internationale Kontakte, etwa zu Veteranenverbänden in Österreich, Frankreich und Skandinavien. Auch ehemalige ausländische Freiwillige der Waffen-SS wurden eingebunden – im Sinne einer „europäischen Waffenbrüderschaft“.
2.3 Publizistik und Geschichtsrevisionismus
Ein zentrales Instrument der HIAG war ihre publizistische Tätigkeit. Seit 1956 gab sie die Zeitschrift Der Freiwillige heraus, die bis 2014 erschien und ein Forum für Veteranenberichte, revisionistische Geschichtsdarstellungen und politische Kommentare bot.
Darüber hinaus finanzierte und organisierte die HIAG die Veröffentlichung zahlreicher Memoiren ehemaliger SS-Führer, etwa von Paul Hausser (Soldaten wie andere auch, 1966) oder Kurt Meyer (Grenadiere, 1957). In diesen autobiografischen Schriften wird ein verklärtes, heldenhaftes Bild der Waffen-SS gezeichnet, während die Verbrechen des NS-Regimes relativiert oder ausgeblendet werden.
Die Geschichtsbilder, die HIAG vertrat, standen im Widerspruch zur sich entwickelnden kritischen Zeitgeschichtsforschung, die die massive Beteiligung der Waffen-SS an Kriegsverbrechen und am Holocaust belegt hatte – z. B. durch Forschungen von Raul Hilberg, Martin Broszat, Christian Streit oder Ernst Klee.
2.4 Politischer Einfluss und Lobbyismus
In der Frühphase der Bundesrepublik konnte die HIAG in Teilen der Politik beträchtlichen Einfluss ausüben, insbesondere durch ihr Engagement im Bereich des Sozialrechts:
- Die Organisation setzte sich für die Gleichstellung ehemaliger Waffen-SS-Angehöriger bei Renten und Kriegsopferversorgung ein.
- Sie arbeitete aktiv daran, ihre Mitglieder von pauschalen NS-Belastungen im Entnazifizierungsverfahren freizusprechen.
- Kontakte bestanden insbesondere zu Politikern der CDU/CSU, FDP und zeitweise der DP, von denen einige selbst ehemalige Waffen-SS-Angehörige waren.
Bezeichnend war auch, dass Mitglieder der HIAG regelmäßig bei Bundestagsabgeordneten und Ministerien vorstellig wurden, um auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Besonders erfolgreich war die Organisation beim Erlass des sogenannten „131er-Gesetzes“ (1951), das ehemaligen Beamten, auch solchen mit NS-Vergangenheit, die Rückkehr in den öffentlichen Dienst ermöglichte – ein Gesetz, das auch vielen ehemaligen SS-Angehörigen zugutekam.
2.5 Verhältnis zur Öffentlichkeit und Medien
Die HIAG pflegte ein ambivalentes Verhältnis zur Öffentlichkeit: Einerseits suchte sie bewusst die mediale Präsenz, um ihr Anliegen der Rehabilitierung voranzutreiben; andererseits reagierte sie empfindlich auf Kritik und sah sich oft als Opfer einer „Siegerjustiz“ oder „antideutschen Hetze“.
Besonders umstritten waren die öffentlichkeitswirksamen Auftritte prominenter HIAG-Funktionäre, etwa Paul Haussers Forderung, die Waffen-SS als „Soldaten wie andere auch“ zu betrachten – eine Formulierung, die zum programmatischen Motto der Organisation avancierte und in Teilen der Nachkriegsgesellschaft Resonanz, aber auch heftige Ablehnung hervorrief.
2.6 Allmählicher Bedeutungsverlust und Auflösung
Mit dem gesellschaftlichen Wandel in den 1960er- und 1970er-Jahren sowie der zunehmenden kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verlor die HIAG allmählich an Einfluss. Die öffentliche Rezeption ihrer Aussagen wurde kritischer, ihre gesellschaftliche Isolation wuchs. Trotzdem blieb sie bis in die 1990er-Jahre aktiv, teilweise radikalisierte sie sich ideologisch in ihrem Geschichtsrevisionismus.
Einzelne regionale Gruppen bestanden formal noch bis in die 2000er-Jahre weiter. Die Zeitschrift Der Freiwillige wurde zuletzt vom rechtsgerichteten Verlag Munin-Verlag weitergeführt, ehe sie 2014 endgültig eingestellt wurde.
2.7 Historische Bewertung und wissenschaftliche Kritik
Die HIAG wird von der historischen Forschung heute als eine der einflussreichsten revisionistischen Akteursgruppen in der frühen Bundesrepublik eingestuft. Ihre Wirkung war vor allem in den 1950er- und 1960er-Jahren relevant, als die bundesdeutsche Gesellschaft in vielen Bereichen eine defensive Haltung zur NS-Vergangenheit einnahm.
Historiker wie Karsten Wilke, Bettina Blank, Christian Hartmann oder Sven Keller betonen in ihren Studien:
- Die HIAG betrieb eine strategische Geschichtsklitterung, die systematisch versuchte, die Waffen-SS aus ihrer Verantwortung für NS-Verbrechen herauszulösen.
- Ihre Lobbyarbeit trug dazu bei, Kontinuitätslinien des Personals und der Mentalitäten zwischen „Drittem Reich“ und Bundesrepublik zu verstärken.
- Der Einfluss der HIAG belegt, wie fragil und konfliktbehaftet die demokratische Erinnerungskultur in der frühen Bundesrepublik war.
Besonders heftig kritisiert wurde auch die Verklärung der Waffen-SS als „europäische Armee gegen den Bolschewismus“, eine Darstellung, die nicht nur die ideologische Nähe zur NS-Ideologie aufrechterhielt, sondern auch gezielt zur historischen Selbstentlastung beitrug.
Fazit: Die HIAG als geschichtspolitische Kraft
Die HIAG war keine Randerscheinung, sondern ein einflussreicher Akteur im Kampf um Deutungshoheit über die NS-Vergangenheit. Sie verkörperte den Versuch ehemaliger Täter und Mitläufer, ihre Vergangenheit zu verharmlosen, ihre soziale Stellung zurückzugewinnen und die historische Verantwortung der Waffen-SS zu relativieren.
Während sie in der Öffentlichkeit zunehmend marginalisiert wurde, wirkte ihr Einfluss in gewissen gesellschaftlichen Milieus lange nach – etwa in Form revisionistischer Veteranenliteratur, verschwörungstheoretischer Narrative und rechtsextremer Netzwerke, die auf HIAG-Publikationen zurückgriffen.
3. Vergleich: ODESSA und HIAG
| Merkmal | ODESSA | HIAG |
|---|---|---|
| Existenz | Mythos, keine Beweise für zentrale Struktur | Historisch belegt (1951–2000er) |
| Zielsetzung | Fluchthilfe für NS-Verbrecher | Rehabilitierung der Waffen-SS |
| Wirkung | Stärkte Mythenbildung und Verschwörungstheorien | Einfluss auf Politik, Öffentlichkeit und Veteranenrecht |
| Öffentliches Bild | Romantisierte Erzählung durch Literatur/Film | Revisionistische Veteranenorganisation mit politischem Einfluss |
| Historische Bewertung | Als „Legende“ oder „Narrativ“ entlarvt | Als revisionistische, apologetische Organisation kritisiert |
4. Schlussbetrachtung
Während ODESSA eher als popkulturelle Konstruktion denn als historische Realität zu betrachten ist, stellt die HIAG ein reales Beispiel für geschichtspolitische Einflussnahme ehemaliger NS-Akteure in der Bundesrepublik dar. Der Mythos ODESSA sagt dabei mehr über gesellschaftliche Ängste, kollektive Verdrängung und das Bedürfnis nach Erklärungen aus als über reale Vorgänge.
Die historische Aufarbeitung der HIAG hingegen verdeutlicht, wie fragil der demokratische Neubeginn der Bundesrepublik in Bezug auf den Umgang mit nationalsozialistischen Tätern war – und welche Rolle Veteranenverbände in der Tradierung revisionistischer Geschichtsbilder spielen konnten.