Die Heilige Lanze, auch Lanze des Longinus, Lanze des Schicksals oder Speer des Schicksals genannt, ist eines der berühmtesten christlichen Reliquienobjekte Europas. Der Legende nach handelt es sich um die Waffe, mit der ein römischer Soldat namens Longinus Jesus Christus am Kreuz in die Seite stach (Johannes 19,34), um seinen Tod zu bestätigen. Über Jahrhunderte hinweg wurde der Lanze wundersame Macht und göttliche Autorität zugeschrieben – und sie war eng verknüpft mit dem Anspruch auf Weltherrschaft. Diese Idee wurde im Dritten Reich propagandistisch aufgegriffen und spielte eine bemerkenswerte Rolle in der okkult-ideologischen Weltanschauung der Nationalsozialisten.
Historischer Ursprung und Entwicklung des Mythos
Tatsächlich existieren mehrere „Heilige Lanzen“ in Europa. Die bekannteste befindet sich heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg. Sie besteht aus einem Eisenspeer mit goldenen Verzierungen und wurde jahrhundertelang als ein Symbol der Kaiserwürde des Heiligen Römischen Reiches verehrt. Diese Lanze soll bereits im Besitz von Konstantin dem Großen gewesen sein, dann über Karl den Großen an die römisch-deutschen Kaiser weitergereicht worden sein – zumindest nach mittelalterlicher Überlieferung.
Im Mittelalter wurde sie als Insigne der göttlich legitimierten Macht gesehen. Viele Herrscher glaubten, dass ihr Besitz die göttliche Zustimmung zur Ausübung von Herrschaft bedeute. Dieses Narrativ wurde später besonders von Esoterikern, Okkultisten und auch politischen Ideologen ausgeschlachtet.
Die Heilige Lanze und der Nationalsozialismus
1. Adolf Hitlers Faszination
Adolf Hitler kam möglicherweise in seiner Zeit in Wien (1908–1913) erstmals mit der Lanze in Berührung. Es gibt Hinweise, dass er die Wiener Schatzkammer besuchte und von der Reliquie tief beeindruckt war. In dem Werk The Spear of Destiny von Trevor Ravenscroft (1973, teils spekulativ und nicht historisch gesichert) wird behauptet, dass Hitler sich „magisch“ von der Lanze angezogen gefühlt habe. Demnach sah er in ihr ein Symbol für seine „Bestimmung zur Weltherrschaft“. Ravenscroft zufolge war Hitler überzeugt, dass derjenige, der die Lanze besaß, das Schicksal der Welt in Händen hielt.
Ob diese Erzählung faktisch korrekt ist, bleibt umstritten. Dennoch ist belegt, dass Hitler ein starkes Interesse an Symbolik, germanischer Mythologie und mittelalterlicher Machtsymbolik hatte – was die Rolle der Lanze in seiner Ideologie zumindest plausibel macht.
2. SS, Himmler und die okkulten Ideen
Auch Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, war tief in okkulte und esoterische Ideologien verstrickt. Unter seiner Leitung versuchte die SS, sich als eine Art „neue Tempelritter-Ordnung“ zu inszenieren. Die Heilige Lanze passte dabei in das Bild einer spirituell begründeten Eliteherrschaft. Himmler ließ die Wewelsburg – das ideologische Zentrum der SS – umbauen und mit Symbolen versehen, die auf keltische, armanische und mittelalterliche Überlieferungen zurückgriffen. Die Lanze wurde dort ideell eingebunden, auch wenn sie physisch in Wien blieb.
3. Der „Besitz“ der Lanze nach dem Anschluss Österreichs
Nach dem Anschluss Österreichs 1938 wurde die Wiener Schatzkammer geplündert und die Lanze nach Nürnberg gebracht – in das „Altreich“ und geistige Zentrum des Nationalsozialismus. Dort wurde sie im Rahmen der nationalsozialistischen Selbstdarstellung als „Schicksalsspeer“ ausgestellt. Die ideologische Botschaft war klar: Die Nazis sahen sich als Erben der Kaiser, als neue weltliche Ordnung mit quasi-religiösem Anspruch.
Mythen und Legenden rund um die Lanze
Die populärste Legende ist, dass jeder, der die Lanze besitzt, unbesiegbar sei – und dass ihr Verlust den Tod bringt. Diese Idee wurde durch Ravenscrofts Buch weltbekannt und findet sich auch in diversen popkulturellen Darstellungen (z. B. Indiana Jones, Hellboy, Verschwörungstheorien um die Thule-Gesellschaft).
Es ist bemerkenswert, dass diese Legenden von den Nationalsozialisten zumindest propagandistisch verwertet wurden – als Mytheninstrument zur Selbstüberhöhung und Mystifizierung ihrer Ideologie. Der Glaube an Vorsehung, Schicksal und die eigene „Sendung“ war ein zentraler Bestandteil nationalsozialistischer Führungskultur.
Nach dem Krieg und heutige Rezeption
Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Heilige Lanze von amerikanischen Truppen gefunden und 1946 nach Wien zurückgebracht. Sie befindet sich heute wieder in der Schatzkammer der Hofburg und ist öffentlich ausgestellt.
Bis heute ist sie Gegenstand esoterischer, historischer und verschwörungstheoretischer Spekulationen. Der tatsächliche archäologische Wert ist gering – Untersuchungen deuten darauf hin, dass sie aus dem 8. bis 10. Jahrhundert stammt und keineswegs aus der Zeit Jesu. Doch der Mythos übertrifft längst die historische Realität – ein Phänomen, das sich in der ideologischen Aufladung durch das Dritte Reich besonders deutlich zeigt.
Fazit
Die Heilige Lanze ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie mittelalterliche Machtinsignien, religiöse Relikte und politische Mythen miteinander verwoben werden können. Im Dritten Reich diente sie als Projektionsfläche für okkulte Sehnsüchte, Machtsymbolik und pseudo-religiöse Legitimation. Ob Hitler tatsächlich an ihre mystische Kraft glaubte oder sie rein propagandistisch nutzte, ist bis heute nicht eindeutig geklärt – doch ihr Einsatz im nationalsozialistischen Symboluniversum ist unbestritten.
Aber selbst das 8. bis 10. Jahrhundert ist schon eine Weile her, was es meiner Meinung nach dennoch zu einem bemerkenswerten Relikt macht und Einblick gibt, wie die Menschen zu dieser Zeit sich eine Reliquie vorstellten. Danke für den Artikel!
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