Von allen Theorien, die Sigmund Freud der Welt hinterließ, gehört jene, die den Antisemitismus mit der jüdischen Beschneidung und einer unbewussten Angst vor Kastration in Verbindung bringt, zweifellos zu den provokantesten. Sie ist eine jener Ideen, die man, wie ein edles, aber ungewohnt gewürztes Gericht, zunächst mit vorsichtiger Skepsis kostet, um erst später – nach reiflicher Überlegung – zu entscheiden, ob man sie für bekömmlich hält oder nicht.
Freud, der bekennende Atheist und doch tief in der jüdischen Tradition verwurzelt, war überzeugt, dass sich die Abneigung vieler Nichtjuden gegen das Judentum nicht allein aus theologischen oder ökonomischen Gründen erklären lasse. Nein, er blickte tiefer – in jene dunklen Kammern der Seele, in denen die archaischen Ängste wohnen. Und dort, im Untergeschoss des Unbewussten, vermutete er den Ursprung eines besonders irrationalen Ressentiments: Die jüdische Praxis der Beschneidung, so Freud, erwecke in nichtjüdischen Männern eine verdrängte Furcht, selbst verstümmelt zu werden – die berühmte „Kastrationsangst“.
Ein Schnitt, der tiefer geht als die Haut
Die Beschneidung ist im Judentum weit mehr als ein medizinischer Eingriff. Sie ist ein Bundessymbol, das seit den Tagen Abrahams den Eintritt des männlichen Kindes in die Gemeinschaft markiert. Für Freud war dieser Ritus nicht nur religiös aufgeladen, sondern auch ein sichtbares und symbolträchtiges Zeichen – ein „Mal“, das Nichtjuden sowohl fasziniert als auch verstört.
Der nichtjüdische Knabe, so Freuds Argument, erfahre irgendwann – sei es durch Erzählungen, sei es durch direkte Anschauung –, dass jüdische Männer in diesem intimen Punkt „anders“ seien. Das Bild, einmal in der kindlichen Phantasie verankert, mische sich mit einer uralten Angst: der Angst vor dem Verlust der männlichen Potenz, vor dem symbolischen Tod der Männlichkeit.
Freud verweist in Totem und Tabu (1913) darauf, dass die nichtjüdische Wahrnehmung der Beschneidung von Juden häufig „einen unliebsamen, unheimlichen Eindruck“ hinterlasse, der sich „wohl durch die Mahnung an die gefürchtete Kastration erklärt“ Die Bibel.
In seinem Essay „Moses und der Monotheismus“ lautet Freuds Beobachtung:
„Der unliebsame, unheimliche Eindruck, den der Brauch auf die Nichtbeschnittenen macht … rühre … daher, dass die Beschneidung der symbolische Ersatz der Kastration sei.“ stuttgarter-zeitung.de
Von der Angst zum Hass
Freud sah in dieser Kastrationsangst keinen bewussten Gedanken, sondern ein verdrängtes Gefühl, das sich maskiert Bahn bricht – und zwar nicht als individuelle Furcht, sondern als kulturell tradiertes Ressentiment. Über Generationen hinweg, so meinte er, habe sich diese Angst in Vorurteile verwandelt, die schließlich den Nährboden für religiösen und später auch rassischen Antisemitismus bildeten.
Diese Sichtweise mag kühn erscheinen, doch sie passt in Freuds übergeordnetes Denksystem: Das Triebhafte, das Verdrängte, das Unausgesprochene – all das hält er für mächtiger als jede offizielle Ideologie. Der Antisemit mag sich auf Bibelverse oder Wirtschaftstheorien berufen, doch in Freuds Lesart steckt hinter diesen rationalen Fassaden eine irrational-leibliche Regung.
Eine der klarsten und pointiertesten Formulierungen Freuds stammt aus einem Vortrag von etwa 1909:
„Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewusste Wurzel des Antisemitismus; denn selbst Kindergarten-Buben hören, dass ein Jude etwas von seinem Penis abgeschnitten wurde – ein Stück seines Penis, denken sie – und das gibt ihnen das Recht, Juden zu verachten.“ haGalil
Damit bringt Freud sein Denken – kongenial in seiner drastischen Direktheit und Jargongebrauch – auf den Punkt: Ein Kind, das ein Fragment des männlichen Geschlechtsteils imaginiert, empfinde diffuse Angst – verbunden mit automatischer Herabsetzung des „Anderen“.
Kritik und kulturhistorische Einordnung
Natürlich blieb diese Theorie nicht unwidersprochen. Historiker und Soziologen haben zurecht darauf hingewiesen, dass Antisemitismus in den verschiedensten Kulturen existierte – auch in solchen, in denen die Praxis der Beschneidung weit verbreitet oder gar universell war. Man denke nur an den islamischen Kulturkreis, in dem Beschneidung gang und gäbe ist, aber antisemitische Vorurteile trotzdem florierten.
Doch Freuds Deutung hat einen unschätzbaren Wert: Sie erinnert uns daran, dass Vorurteile nicht allein in Büchern oder Gesetzen entstehen, sondern auch im Schattenreich der Emotionen. Wer den Antisemitismus nur mit politischen oder wirtschaftlichen Argumenten bekämpfen will, so könnte man in Freuds Sinne sagen, bekämpft nur die Symptome – nicht aber die unbewusste Quelle der Krankheit.
Freud sieht diese antijüdischen Gefühle nicht als rationale Argumente, sondern als archaische, unbewusste Abwehr. Die Beschneidung wirkt wie ein Trigger: Ein Symbol, das verdrängte Ängste auslöst, vermeintlich real wahrnehmbar, obwohl sie nicht bewusst sind. Über Generationen transformieren sich diese Emotionen in Ressentiments gegenüber einer „symbolisch“ gefährlich „anderen“ Gruppe.
Freud ergänzt diese Deutungen in Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), indem er Antisemitismus als kulturelle Manifestation ödipaler Konflikte beschreibt – etwa die Eifersucht auf das „erstgeborene, bevorzugte Kind Gottes“ – und verknüpft helfen dabei das Ritual der Beschneidung als „unheimliches“ Zeichen WikipediaDie Bibel.
Natürlich ist diese Interpretation weder vollständig noch empirisch ausreichend. Historiker betonen, dass Antisemitismus in vielen Kulturen vorkam – auch dort, wo Beschneidung verbreitet war oder gar universell, etwa in islamischen Gesellschaften. Das macht deutlich, dass andere Faktoren historisch dominanter sind.
Zudem wird Freuds Theorie als intellektuelles Experiment verstanden – ein psychoanalytischer Reflex, der weniger gesellschaftliche Erklärung, als vielmehr eine psychische Metapher bietet. Sie erinnert uns daran, dass Ressentiments nicht nur politisch oder ökonomisch begründet sind – sondern auch im Körperarchiv der Psyche schlummern
Die Eleganz der unbequemen Fragen
In der Tradition der großen europäischen Salonkultur gilt es als Ausweis geistiger Souveränität, auch die unbequemen Hypothesen zu diskutieren. Freuds Theorie mag uns nicht vollständig überzeugen, doch sie zwingt uns, den Blick zu weiten: Antisemitismus ist kein monolithisches Phänomen, sondern ein Mosaik aus Theologie, Politik, Psychologie und – ja – aus archaischen Ängsten, die sich jeder Aufklärung hartnäckig entziehen.
So bleibt uns am Ende der Eindruck, dass Freud mit seiner „Kastrationsangst“-These nicht den Schlüssel, wohl aber einen der vielen Schlüssel zu einem der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte in Händen hielt. Ob wir diesen Schlüssel benutzen wollen, ist eine andere Frage – doch ihn achtlos beiseite zu legen, hieße, auf eine Gelegenheit zur Selbsterkenntnis zu verzichten. Und Selbsterkenntnis, das wusste Freud ebenso wie Sokrates, ist nicht nur der Beginn der Weisheit, sondern vielleicht auch der wirksamste Schutz gegen die Verführungskraft des Hasses.
Aber was sagt die Fachwelt zu dieser Theorie?
Psychoanalytische Ergänzungen zur Freudschen Deutung
Otto Fenichel (1940)
Der marxistisch geprägte Psychoanalytiker Otto Fenichel ergänzte Freuds psychoanalytische Perspektive um eine historisch-politische Dimension: Für ihn war Antisemitismus nicht nur Ausdruck unbewusster Ängste, sondern ein politisches Ventil. In wirtschaftlich instabilen Zeiten und angesichts sozialer Unsicherheiten diente er als „Projektionsfläche“ für kollektive Ressentiments. Der „Jude“ fungiere als symbolischer Sündenbock – eine Ablenkung vom Kampf der Klassen und sozialen Frustrationen. Gleichzeitig verweist Fenichel auf die „archaische Fremdheit“ der jüdischen Minderheit, die in seiner Analyse eine Projektion verdrängter Triebe und gesellschaftlicher Ängste darstellte journal-redescriptions.org.
Hugo Valentin & andere Psychoanalytiker
In der deutschsprachigen psychoanalytischen Forschung wurde der Antisemitismus zunehmend als projektives Konstrukt verstanden – weniger als Sachverhalt, mehr als emotionale Funktion. Hugo Valentin etwa wies darauf hin, dass Judenhass global weniger mit realen jüdischen Handlungen, sondern vielmehr mit imaginären Vorstellungen des „Juden“ zu tun habe Wikipedia.
Historisch-psychologische Kritik und Kontextualisierung
Elisabeth H. Punzi (2014)
Punzi reflektiert eine weniger problematische, ja fast stolze jüdische Identität Freuds: Sein Selbstverständnis als „gottloser Jude“ speise sich nicht aus innerer Distanzierung, sondern aus tiefer Verwurzelung in jüdischer Tradition und Ritualen — und daraus gewann er Einsichten in die menschliche Psyche. Die Beschneidung erscheint hier nicht als Ursprungsort eines Ressentiments, sondern als eine transformative kulturelle Signatur Taylor & Francis Online+1.
Stephen Frosh
Frosh betrachtet Freud’s psychoanalytische Beschäftigung mit Beschneidung als eine Gegenrede zum zeitgenössischen Antisemitismus. In seiner Lesart symbolisiert die jüdische Praxis einen tiefen Bewältigungsmechanismus kultureller Außenseiter:innen: die Auseinandersetzung mit Sexualität, Anderssein und Identität – nicht als Abweichung, sondern als episteme der „versteckten Macht“. Mehr als Exoten reflektieren Juden eine verborgene Struktur menschlicher Entwicklung SAGE Journals.
Arnold Richards & Pamela Cooper-White
Richards betont, dass antisemitische Angriffe auf Freud seine Physiognomie prägten: Seine „Aggressivität gegenüber Religion“ sei nicht nur philosophisch, sondern auch Reaktion auf das soziale „Anderssein“ gewesen – und zugleich Ausdruck einer „militanten Gottlosigkeit“, getragen vom Wunsch nach wissenschaftlicher Legitimität und Assimilation Eva Fogelman.
Cooper-White unterstreicht, dass der Boreinfluss des österreichischen Katholizismus („repressive Austrian Catholicism“) Freud in Kunst und Wissenschaft besondere Sensibilität lehrte – und sein psychoanalytisches Schaffen wesentlich beeinflusste Eva Fogelman.
Zusammenfassung der psychologischen Einschätzungen
Freuds Theorie der „Kastrationsangst als Wurzel des Antisemitismus“ ist mutig — und zugleich ein kunstvoll gesetzter Spiegel, der ins kollektive Unbewusste blickt. Doch ist sie nicht unumstritten. Fenichel erweitert den Horizont, indem er die Mechanismen politischer Projektion sichtbar macht; Punzi erinnert an Freuds ambivalente jüdische Verwurzelung; Frosh offenbart, wie psychoanalytische Reflexion zur kulturellen Kritik wird; Richards und Cooper-White zeigen, wie Biografie, Religion und Assimilationsdruck die intellektuelle Grundhaltung prägten.
Freud mag uns keine abschließende Erklärung liefern – aber er lädt ein, nicht nur politisch zu denken, sondern psychologisch zu begreifen: Wie definieren wir uns selbst über das Anderssein? Und: Welche verdrängten Ängste speisen Ressentiments?
In der Souveränität des Denkens heißt es, solche Fragen ernst zu nehmen — nicht, um sie sofort zu beantworten, sondern um den Spiegel klar zu stellen. Und gerade darin liegt die unbequeme Eleganz: Der Schlüssel bleibt unser eigener Blick in den Spiegel.
Zitat:
Zusammenfassung der psychologischen Einschätzungen
Freuds Theorie der „Kastrationsangst als Wurzel des Antisemitismus“ ist mutig — und zugleich ein kunstvoll gesetzter Spiegel, der ins kollektive Unbewusste blickt. Doch ist sie nicht unumstritten. Fenichel erweitert den Horizont, indem er die Mechanismen politischer Projektion sichtbar macht; Punzi erinnert an Freuds ambivalente jüdische Verwurzelung; Frosh offenbart, wie psychoanalytische Reflexion zur kulturellen Kritik wird; Richards und Cooper-White zeigen, wie Biografie, Religion und Assimilationsdruck die intellektuelle Grundhaltung prägten.
Freud mag uns keine abschließende Erklärung liefern – aber er lädt ein, nicht nur politisch zu denken, sondern psychologisch zu begreifen: Wie definieren wir uns selbst über das Anderssein? Und: Welche verdrängten Ängste speisen Ressentiments?
In der Souveränität des Denkens heißt es, solche Fragen ernst zu nehmen — nicht, um sie sofort zu beantworten, sondern um den Spiegel klar zu stellen. Und gerade darin liegt die unbequeme Eleganz: Der Schlüssel bleibt unser eigener Blick in den Spiegel.
Kommentar:
Jeder Mensch ist anders als ein anderer.
Die Angst ist eine Warnung, jedwelche Grenzen, zum eigenen Schutz, und zum Schutz der anderen nicht zu überschreiten.
Wer das Fürchten nicht gelernt hat, wird auf seinen Überzeugungen sitzen bleiben.
Niemand hat den Schlüssel, zum Geheimnis des eigenen, und dem Leben an sich, in seinen eigenen Händen.
Der Kern, vermittelt durch die Seele, spricht zu uns im Traum, zu jedem Menschen, in sein Gewissen.
Die Seele spiegelt unser Dasein in uns, und wie wir uns in der wirklichen Welt, zu Lebzeiten verhalten.
Die Begriff-Setzung eines Überichs. Die der schnell Denkende, den Schwachen, damit ihr ewiges Haupt auf den Punkt setzen.
Verstehen, heisst antworten.
Zitat:
Wo ES war soll ich werden.
Kommentar:
Diese Theorie, als Aufforderung, gleicht einer Entmenschlichung von Anfang an, an allen Geschlechtern.
Das Kollektive Unbewusste, ist so alt wie die Menschheit selbst. Der „Königsweg“ wird nicht durch die Traumdeutung beschritten. Es gibt keinen Weg hinab; damit ein Mensch vor dem Teufel von Angesicht zu Angesicht, stehen könnte.
Mit einer Höllenfahrt, dem Zweifler begegnen zu können. („Die Göttliche Komödie“)
Das absolute Böse ist dem Menschen nicht zugänglich.
Die Seelsorger, bemühen sich, das Wesen des Menschen, aus einer Sintflut der Tiefe, durch ihre Begleitung, durch Rituale, Gebete, Ratschläge befreien zu können.
LikeLike
Freuds Versuch, Antisemitismus als Kastrationsangst infolge der jüdischen Beschneidung zu deuten, wirkt aus heutiger Sicht eher wie ein psychodynamischer Reflex auf die eigene Herkunft als wie eine tragfähige Erklärung für ein historisch-politisches Phänomen. Es ist die typische Freud’sche Bewegung: Trauma, Sexualsymbolik, universelle Deutung — und dabei eine bemerkenswerte Innenperspektive.
Interessant wird der Vergleich mit Heinrich von Treitschke, der zur selben Zeit aus der entgegengesetzten Richtung argumentierte: Die „nationale Sonderexistenz“ des Judentums sei mit dem deutschen Volkskörper unvereinbar. Was Freud als psychische Irritation aus einer individuealisierten Innensicht beschreibt, formuliert Treitschke als politische Ablehnung aus einer kollektiven Außensicht — aber beide reagieren auf die Besonderheit jüdischer Identität, die sich räumlich und kulturell unabhängig behauptet.
Der gemeinsame Nenner ist die „splendid isolation“ des Judentums: eine Form der Selbstbehauptung eines „auserwählten Volkes“, die in allen Zeiten und Räumen als Provokation gelesen wurde. Wenn Antisemiten vom „internationalen Judentum“ sprechen, wandeln sie auf den Spuren Treitschkes — irritiert von einer Identität, die sich nicht national einhegen lässt.
LikeLike