Über die Verpestung der Moral durch eitlen Schein

Ein unzeitgemäßer Sermon über die Captatio Benevolentiae, den moralischen Exhibitionismus und die gottlose Selbstverklärung des Tugendhaften

„Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zu üben, um von ihnen gesehen zu werden.“
(Matth. 6, 1)

I. Vorspiel der Heuchelei

Es ist eine alte, aber unverwüstliche Krankheit der Menschheit, dass sie lieber den Anschein des Guten liebt als das Gute selbst.
Man sieht sie heute allenthalben — jene moralisch geschminkten Gesichter, jene tugendsatten Seelen, die das Wort „Werte“ so häufig im Munde führen, dass sie dessen Bedeutung längst verloren haben.
Sie werfen mit sittlichen Bekundungen um sich, wie der Scharlatan mit Wunderelixieren, und meinen, schon der Tonfall der Empörung sei Beweis sittlicher Überlegenheit.

Das ist nicht Moral, das ist Marktschreierei;
nicht Tugend, sondern Trödelware des Gewissens.
Der moralische Schaum dieser Zeit rauscht laut, aber ohne Tiefe; er glänzt, doch ohne Wesen.
Hier wird das Gute produziert wie ein Produkt, etikettiert, verteilt, beklatscht — und am nächsten Tag vergessen.
Was bleibt, ist das wohlig selbstgerechte Gefühl, man habe sich auf der Seite des Lichts gezeigt, ohne je die Dunkelheit im eigenen Herzen befragt zu haben.

Unter allen Verirrungen, denen die Menschennatur, als einem zwiespältigen Geschöpf von Neigung und Vernunft, unterworfen ist, gibt es keine, die das moralische Gefühl gründlicher untergräbt als diejenige, sich des Guten zu bedienen, um sich selbst zu gefallen.
Ich meine hier nicht jene offene Heuchelei, die mit Zynismus den Schein des Rechts nur trägt, um den Vorteil des Unrechts zu genießen;
sondern jene weit gefährlichere, da selbstgerechte Form der Scheinheiligkeit, in welcher das Subjekt das moralische Gesetz nicht achtet, sondern ausstellt,
nicht verehrt, sondern vermarktet.

Denn wenn das Gute zum Mittel der Eigenliebe gemacht wird, so wird das Heiligste, was im Menschen wohnen kann, zum Werkzeug der Eitelkeit erniedrigt.
Dies ist keine bloße Unangemessenheit, sondern eine Verkehrung des moralischen Prinzips selbst:
Die Pflicht, die allein aus Achtung vor dem Gesetz gelten kann, wird hier zum Schauspiel der Affekte,
zum moralischen Maskenball, in welchem jeder sich selbst applaudiert, indem er Tugend vortäuscht.

II. Vom Schauspiel der Tugend

Wie verächtlich muss dem denkenden Wesen die Captatio Benevolentiae erscheinen — jene schmierige Kunst, durch Anbiederung moralisches Wohlwollen zu erheischen!
Wer Tugend zeigt, um geliebt zu werden, hat sie schon verloren.
Denn Tugend, die gesehen werden will, ist nicht Tugend, sondern Eitelkeit im Festkleid der Moral.
Ein solcher Mensch handelt nicht aus Pflicht, sondern aus Berechnung; nicht aus Achtung vor dem Gesetz, sondern aus Begierde nach Zustimmung.

Und diese Begierde ist die schmutzigste Form des Egoismus, weil sie das Gute selbst zur Dirne macht, die den Applaus bedient.
Der wahrhaft moralische Mensch aber handelt, als ob kein Auge ihn sähe — denn er weiß, dass das Auge der Welt blind und das Urteil des Pöbels käuflich ist.

Kant sagt: „Der gute Wille ist nicht gut durch das, was er bewirkt, sondern durch das Wollen allein.“
Doch wo ist er noch, dieser gute Wille, da jeder Tweet, jeder Spendenaufruf, jedes Tragen eines Symbols sofort zum moralischen Fanfarenstoß wird?
Die Pflicht wird zur Pose, das Gewissen zur Geste, das Heil zur Hashtag-Kampagne.
Man trägt die Tugend wie eine Uniform — und fühlt sich schon gerecht, weil man sie trägt.

Der moralische Wert einer Handlung besteht nicht in der Übereinstimmung mit dem Gesetz in der Erscheinung,
sondern in der Maxime, kraft derer sie geschieht.
Daher kann nichts den Wert einer Handlung so sicher vernichten, als wenn sie auf Beifall abzielt.
Denn der Beifall ist das wohlfeilste aller Güter und zugleich das gefährlichste,
weil er die Vernunft in der Täuschung erhält, sie habe bereits getan, was sie nur gesagt hat.

Jeder Mensch, der das Gute tut, um gesehen zu werden, handelt heteronom, das heißt, nicht aus seinem eigenen Vernunftgesetz, sondern aus einer fremden Antriebsursache: der Meinung anderer.
Er macht sich selbst zum Objekt, zum Schauspieler seiner eigenen Moralität,
und verliert dadurch die Würde, ein moralisches Subjekt zu sein.
Solche Erscheinungen verdienen nicht Mitleid, sondern moralische Verachtung.
Denn sie machen die Tugend verdächtig, als sei sie nur eine Form gesellschaftlicher Eitelkeit,
und berauben sie ihrer reinen Quelle: der Achtung.

III. Der Zorn der Schrift

Matthäus 6, 1–7 spricht mit jener göttlichen Klarheit, die der modernen Seele zu unbequem ist:
„Wenn du Almosen gibst, so posaune es nicht vor dir her, wie es die Heuchler tun.“
Doch die Welt posaunt!
Sie posaunt auf allen Kanälen, Tag und Nacht, in einer unaufhörlichen Prozession der Selbstvergewisserung.
Es gibt keine linke und rechte Hand mehr — beide klatschen sich selbst Beifall.

Christus‘ Mahnung war nicht gegen Frömmigkeit gerichtet, sondern gegen das Theater der Frömmigkeit.
Und hierin ist er ein Verbündeter Kants:
Denn was ist der Heuchler anderes als einer, der das moralische Gesetz nicht in sich selbst, sondern im Blick des Anderen sucht?
Er handelt nicht aus Freiheit, sondern aus Abhängigkeit —
ein Sklave des Beifalls, der sich für einen Engel hält.

Die Worte Christi — „Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übt vor den Menschen, um von ihnen gesehen zu werden“ — enthalten in religiöser Sprache genau dasselbe, was die Vernunft als kategorischen Imperativ ausspricht:
Handle so, dass die Maxime deines Handelns nicht der Anerkennung anderer, sondern der Anerkennung durch das Gesetz selbst fähig sei.

Wenn Christus ferner spricht, die linke Hand solle nicht wissen, was die rechte tut, so liegt darin nicht bloß die Empfehlung der Bescheidenheit,
sondern das tiefste moralische Prinzip:
Das sittliche Bewusstsein bedarf keiner äußeren Zeugenschaft, um gewiss zu sein.
Das Gute will kein Auge, das es sieht, und kein Ohr, das es lobt;
es genügt sich selbst durch die reine Form des Gesetzes,
welches in der inneren Autonomie des Willens seine unerschütterliche Würde findet.

Der Lautbeter, der öffentlich seine Frömmigkeit verkündet, empfängt schon hier seinen Lohn — den Applaus.
Aber dieser Lohn ist nicht Glückseligkeit, sondern Verlust;
denn er hat die Heiligkeit des Gesetzes in den Staub des Marktplatzes geworfen.
Er wollte gesehen werden — und ist darum unsichtbar für das moralische Urteil geworden.

IV. Das metaphysische Elend des Tugendschauspielers

O, wie arm ist jener Geist, der glaubt, moralisch zu sein, weil er moralisch erscheint!
Er gleicht einem Spiegel, der Licht zurückwirft, aber keines erzeugt.
Er spricht von Mitgefühl, doch kennt es nur als Dekoration;
er predigt Gerechtigkeit, doch nur solange, wie sie ihm Beifall einträgt.
Solcher Mensch ist kein sittliches Wesen, sondern ein Komödiant der Pflicht,
ein Schauspieler auf der Bühne des Guten,
dessen Seele leer bleibt, sobald der Vorhang fällt.

Thomas von Aquin hätte ihn einen homo inflatus genannt — einen aufgeblasenen Menschen,
vom Stolz geschwängert, aber geistig unfruchtbar.
Er begehrt das Gute nicht um seiner selbst willen, sondern als Trophäe des Ichs.
Seine vermeintliche Frömmigkeit ist Selbstliebe im Heiligenschein.

Die Zeit, in der wir leben, ist reich an moralischer Rede, aber arm an moralischem Geist.
Es wird von Werten gesprochen, als seien sie Münzen;
von Empörung, als sei sie Tugend;
von Haltung, als genüge schon das Wort.
Man meint, durch das öffentliche Bekennen einer Gesinnung habe man bereits das Gute getan —
und übersieht, dass kein Gedanke, keine Meinung, keine Pose jemals eine Pflicht ersetzen kann.

So wird der Mensch zum Moralhändler,
der mit Worten bezahlt, wo Taten gefordert sind,
und mit Empörung spekuliert, wo Stille geboten wäre.
Diese moralische Inflation ist die eigentliche Armut der Gegenwart:
Es gibt zuviel Tugend im Munde, und zu wenig im Herzen.

V. Der letzte Ernst

Der Mensch ist berufen, das moralische Gesetz in sich zu achten, nicht es zu inszenieren.
Denn das Sittengesetz duldet keinen Zuschauer.
Es verlangt Stille, Sammlung, Selbstprüfung — kein Publikum, keine Reaktion, keinen Applaus.
Der wahre moralische Akt ist eine Liturgie des Inneren, in der die Seele sich allein vor dem Gesetz beugt.
Alles andere ist Schauspielerei, blasphemische Schaustellung, Entweihung des Heiligen.

So sage ich mit der ganzen Strenge, die der Vernunft zukommt:
Der Scheinheilige ist nicht nur unmoralisch, er ist antimoralisch.
Denn er korrumpiert nicht bloß sich selbst, sondern die Idee des Guten an sich.
Er macht das Heilige lächerlich, das Pflichtbewusstsein verdächtig, die Lauterkeit verdorben.
Er ist der Totengräber der Moral — und lächelt dabei.

Die Pflicht verlangt keine Zeugen.
Sie verlangt den inneren Gerichtshof der Vernunft,
vor dem das Subjekt zugleich Kläger, Richter und Angeklagter ist.
Hier, und nur hier, geschieht das, was man moralische Tat nennen darf.
Alles andere ist Schauspiel, Geräusch, Blendwerk.

Denn die Tugend, die man zeigt, ist schon verdorben;
die Tugend, die man verbirgt, ist rein.
Die erste sucht den Beifall der Welt, die zweite den Frieden mit sich selbst.
Und dieser Friede — nicht Ruhm, nicht Applaus, nicht Zustimmung —
ist der wahre Lohn des moralischen Menschen.

VI. Epilog

Darum, ihr Freunde der Vernunft:
Sucht nicht Lob für eure Gerechtigkeit, noch Augen, die euch sehen, noch Münder, die euch loben.
Denn jedes Lob, das ihr empfangt, raubt euch ein Stück eurer Reinheit.
Handle also, als ob der Himmel schweige —
und wisse: Die Pflicht selbst ist Lohn genug.

Denn Tugend ist nicht, gesehen zu werden.
Tugend ist, nicht gesehen werden zu müssen.

Ich sage daher mit allem Ernst:
Wer das Gute als Mittel gebraucht, um Gunst zu erwerben,
entheiligt das Gute.
Wer Tugend ausstellt, um gesehen zu werden,
verkauft die Idee der Moral, wie ein Händler, der mit Reliquien hausiert, deren Heiligkeit er nicht versteht.

Er mag die Worte des Gesetzes im Munde führen,
doch in seinem Herzen hallt nur das leere Geräusch der Eigenliebe wider.
Solcher Mensch ist ein Komödiant des Pflichtbewusstseins,
ein Händler des Heiligen,
ein Emporkömmling im Reich der Moral,
und verdient nicht Bewunderung, sondern Prüfung.

Denn das moralische Gesetz in mir ist kein Schauspiel,
sondern ein stiller, unerbittlicher Richter,
vor dem alle Masken fallen.
Und vor diesem Richter gilt nur eines:
nicht, wie tugendhaft ich erscheine,
sondern, ob ich die Tugend um ihrer selbst willen liebe.

Postskriptum

Wer also noch einmal meint, sein Gewissen müsse man „sichtbar machen“,
der sei daran erinnert:
Das Gewissen ist kein Plakat,
und die Tugend kein Publikumssport.
Der moralische Mensch schweigt —
und handelt.

Ein Gedanke zu “Über die Verpestung der Moral durch eitlen Schein

  1. Das Herz und mehr noch die reine autonome Vernunft, müssen lernen, dass die Gesetze; vom Kern, vermittelt, durch die Seele, so alt sind, wie die Menschheit selbst. Das Kollektive Unbewusste, in dem der geschlechtslose „Allwissende“ leibt und lebt kennt keine Vorgaben zur Tugend und den Moralen. Gott im Menschen, redet durch den Traum, dem Menschen, zu neuer Einsicht ins Gewissen.

    Selbst der Dümmste und der Böseste Mensch, ist der universellen, unteilbaren, absoluten Würde. Wer diesen Imperativ missachtet, macht mit seinem Urteil, eine`en anderen Menschen, zum fassbaren Ding, mit dem er machen kann, was er für gut findet, und will. Weil er, in allem weiss, was Böse und Gut ist, und durch sein Wort und seine Taten anderen das Bessere vermittelt.

    Der Mensch soll seine Beichte, nicht vor dem Überich, ablegen, sondern, aus der Geschichte, der Menschheit, die in seinem persönlichen Unbewussten verankert ist, auf dem seine ganzes Wesen aufsitzt, seine Einkehr halten.

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