Pu, der Bär und Der Wind in den Weiden
Oder: Zwei Klassiker, die in keinem Kinderzimmer fehlen dürfen
Ich muss ja ehrlich gestehen, dass ich erst im Erwachsenenalter mit diesen beiden Klassikern der Kinderliteratur in Berührung gekommen bin. Mein Bruder und ich wuchsen in den 1970er Jahren auf und so wollten uns unsere Eltern auch progressiv erziehen, was sich auch auf den Vorlesestoff erstreckte. Es war quasi die „Rappelkiste“ in Buchform. Quasi als Kontrastprogramm gab es dann noch unseren Großvater, der uns, wenn wir bei unseren Großeltern schlafen durften, aus einem in oranges Leinen gebundenen Buch aus den 1920er Jahren deutsche Götter- und Heldensagen vorlas. Glauben Sie mir, spätestens nach der Geschichte von Beowulf und einer detaillierten Beschreibung, wie „der Unhold Grendel“, wie es in dem Buch hieß, Menschen massakrierte und auffraß war an baldigen Schlaf für uns beide nicht mehr zu denken. Dazu kamen noch die ebenfalls detailreichen Stahlstiche im Stil der Zeit. Kein Wunder also, wenn ich noch heute beim Anblick der Müllabfuhr oder der niederländischen Fußballnationalmannschaft Panikattacken bekomme und das nur wegen orange…
Sie sehen also, das Thema Gute-Nacht-Geschichten war für mich eher negativ besetzt. Hätte es nicht sein müssen, denn zwei Bücher, die wir heute als Klassiker der britischen Kinderliteratur sehen (eigentlich wollte ich hier „der englischen Kinderliteratur“ schreiben, aber nachdem Kenneth Graham ja Schotte ist bzw. war, wurde es dann doch „britischen“), haben ihre Karriere ebenfalls als Bettkantengeschichten begonnen.
Beginnen wir mit „Pu der Bär“. Die Geschichten um Pu den Bär stammen aus der Feder von Alan Alexander Milne, der seinem Sohn Christopher Robin
Hauptfiguren dieses Kinderbuches sind als erstes natürlich Pu der Bär, oder wie er im Original heißt „Winnie-the-Pooh“, dann kommen Ferkel (Piglet), Oile (Owl), I-Aah (Eeyore), Kaninchen (Rabbit), Känga (Kanga), Klein-Ruh (Roo), Tiger (Tigger) und natürlich die zweite Hauptperson Christopher Robin.
Das „Heffalump“, das sich in Gestalt eines kleinen Elefanten durch die Disney-Filme schleicht, kommt in der Originalgeschichte allerdings nur am Rande vor und ist eigentlich kein Tier, sondern nur die Angst vor etwas, daß gar nicht da ist.
Alle diese Figuren waren die Stofftiere von Christopher Robin Milne, dem ganz realen Sohn von Alan Alexander Milne. Die Geschichten, die Christopher Robin mit seinen Stofftieren spielte, entwickelte der Vater weiter, brachte sie zu Papier und las sie dann wieder seinem Sohn vor. So profitierte der eine vom andren.
Alle Geschichten ereignen sich im 160-Morgen-Wald. 160 Morgen und nicht 100 Morgen deswegen, weil der Wald im Original der 100 Acre Wood ist. In einer früheren Übersetzung wurde dies mit 100 Morgen gleichgesetzt, was aber so nicht ganz stimmt, da 100 Acre 404700 m² entsprechen, was wiederum 161,88 Morgen ergibt. In der aktuellen Pu-Übersetzung von Harry Rowohlt, die allgemein näher am Originaltext ist, wurde dies berichtigt, genauso wie der bis dahin nur Christoph Robin sein „er“ wieder bekam und nun endlich wieder als Christopher Robin durch die Welt gehen kann.
Die Geschichten umfassen zwei Bände „Pu der Bär“ und „Pu baut ein Haus“. Darüber hinaus gibt es noch einen Gedichtband „Ich und Du, der Bär heißt Pu“ und eine Fortsetzung von David Benedictus „Rückkehr in den Hundertsechzig-Morgen-Wald. Über die Disney-Filme sei an dieser Stelle allerdings der Mantel der Scham gedeckt…
Woher Pu seinen Namen hat, weiß man nicht genau, denn eigentlich heißt er ja mit bürgerlichem Namen Eduard Bär, auch wenn Christopher Robin ihn ganz liebevoll seinen dummen alten Bär nennt (’silly old bear‘ im englischen Original). Die netteste Geschichte über den Namen liefert übrigens der Übersetzer Harry Rowohlt in einem Spiegel-Artikel:
„Sein Verfasser hieß übrigens Milne. Und mit Vornamen hieß er Alan Alexander; wir können also davon ausgehen, daß seine Freunde ‚Al‘ zu ihm gesagt haben. Oder sogar ‚Al-Al‘. Als Milne zum Beispiel gerade überlegte, wie er den Bären, über den er ein Buch schreiben wollte, nennen sollte, kamen seine besten Freunde Keats und Chapman mit dem Fahrrad vorbei. ‚Hallo Al-Al‘, rief Keats, ‚kommst du mit, ein gepflegtes Bierchen zischen?‘ ‚Nein‘ sagte Milne, ‚ich habe keine Zeit. Ich überlege gerade, wie ich den Bären nennen soll, über den ich ein Buch schreiben will.‘ ‚Na dann eben nicht‘, sagte Keats. ‚Wer nicht will, der hat schon‘, sagte Chapman. ‚Puh!‘ rief Keats. ‚Genau‘, sagte Milne.“
Das schöne an den Geschichten um Pu den Bären ist einfach, dass jedes Kind sich in der einen oder andern Figur (oder Figurenkombination) wiederfinden kann. Und selbst Erwachsene noch viel ZEN in den Ausführungen des Philosophen Pu finden können. So verwundert es nicht, dass es gerade im englischen Sprachraum dutzende von Pu-Ratgebern gibt. Aus unseren Breiten fallen mir „Pu der Bär und Tieger oder: wie man Karriere macht“ und „Pu der Bär oder: wie man mit Feng Shui Harmonie ins Leben bringt“ (beide Dressler-Verlag Hamburg) ein. Seit ich jedenfalls den „kleinen Mundvoll“ (eine je nach Stimmung größere oder kleinere Zwischenmahlzeit), bin
ich viel ausgeglichener.
So ist die Geschichte von Pu dem Bären nicht nur für Kinder interessant, sondern gibt auch Erwachsenen Rat und Lebenshilfe. Darum ein hoch dem Bären Pu:
Singt Ho! Der Bär soll leben!
Es ist mir egal, ob Schnee oder Regen,
Meine Nase riecht Honig auf allen Wegen!
Singt Ho! Leben soll Pu!
Er braucht einen kleinen Mundvoll ab und zu!
In unserem zweiten Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Graham spielen ebenfalls Tier die Hauptfiguren. Dies sind der etwas naive Maulwurf (Mole), die patente Wasserratte (Ratty), der selbstverliebte und etwas hyperaktive Kröterich (Toad) und der knorrig-liebenswerte Dachs (Mr. Badger). Außerdem tauchen noch der freundliche Otter mit seinem Sohn Portly und die hinterhältigen Wiesel und Hermeline auf.
Graham war bei seiner Großmutter aufgewachsen, die in Cookham Dene in der Grafschaft Berkshire lebte und deren Garten durch den den Thames begrenzt war. So lernte er schon als Kind die typische Flora und Fauna kennen. Als dann sein Sohn Alastair geboren war, unternahm er mit ihm oft Bootsfahrten und Ausflüge. Um die Tiere, die sie bei diesen Partien sahen, konstruierte Graham kleine Geschichten, die er seinem Sohn am Abend als Gute-Nacht-Geschichten erzählte. Die Geschichten, die in „Der Wind in den Weiden“ erhalten geblieben sind, hatte er in Briefe an seinen Sohn geschrieben, die er ihm während der Ferien schrieb.
Die tierischen Charaktere erhielten von Graham menschliche Eigenschaften und auch Macken. Aber alle Charakterzüge passten zu den jeweiligen Tieren. Natürlich kommt es deswegen auch zum Streit, aber immer wieder finden die Tiere durch ihre Freundschaft und gegenseitige Zuneigung wieder zueinander.
Das Buch ist besonders durch seine liebevollen Naturbeschreibungen und die Schönheit des Jahreslaufs so liebenswert. Es zeigt, dass Mensch und Natur im Einklang leben können und das unsere so übertriebene Technik-Hörigkeit und das hinterher hasten nach dem neuesten Handy, I-Pad, PC etc. uns die Augen verschließen lässt vor den Schönheiten der Natur.
Die Stimmung, die Graham in seinem Buch schafft, ist von tiefer Harmonie, von Freundschaft und Zuneigung geprägt. Wobei das tief pantheistisch geprägte siebte Kapitel „The Piper at the Gates of Dawn“ einen besonderen Zauber besitzt, der ja bereits Pink Floyd zu einem Album inspirierte. Auch Van Morrison veröffentlichte auf seinem Album „The Healing Game“ ein Lied mit diesem Titel. Blackmores Night wiederum haben ein Stück mit dem Titel „The Wind in the Willows“ im Repertoire.
Besonders liebevoll ist eine Umsetzung als Zeichentrickfilm gelungen, der 1996 erschien. Hier fungiert Vanessa Redgrave als Erzählerin und Schauspieler wie Michael Palin und Alan Bennett übernahmen Sprechrollen. Ebenfalls 1996 erschien eine Spielfim-Adaption von Terry Jones, in der unter anderem John Cleese einen Gastauftritt hat. Glücklicherweise gibt es nur eine kurze Disney-Verfilmung des Stoffes, die ein Teil des Episodenfilms
„Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte“ aus dem Jahr 1949 sind.
Dem britischen Autor William Horwood gelang es, genau diese wunderbare Stimmung in vier Folgebänden wiederaufleben zu lassen. Dies waren „Winter in den Weiden“, „Frühling in den Weiden“, „Herbst in den Weiden“ und „Weihnachten in den Weiden“.
Sowohl „Der Wind in den Weiden“, wie auch „Pu der Bär“ wurden von Harry Rowohlt genial ins Deutsche übersetzt. Es existieren zwar jeweils noch andere Übersetzungen, aber verlieren sie doch viel gegenüber der Rowohltschen; ist er doch sehr nahe an der Sprache der Originaltexte und schafft es auch, die jeweiligen Stimmungen besser zu erfassen.
Beide Bände wurden durch Ernest Howard Shepard illustriert. Diese Illustrationen sind noch heute das weltweite Markenzeichen dieser Bücher. Im Fall von „Der Wind in den Weiden“ kam der finanzielle Erfolg erst mit der herausgabe eines Bandes mit den Zeichnungen von Shepard.