Von der Scheinheiligkeit

Καὶ ὅταν προσεύχησθε, οὐκ ἔσεσθε ὡς οἱ ὑποκριταί, ὅτι φιλοῦσιν ἐν ταῖς συναγωγαῖς καὶ ἐν ταῖς γωνίαις τῶν πλατειῶν ἑστῶτες προσεύχεσθαι, ὅπως φανῶσιν τοῖς ἀνθρώποις· ἀμὴν λέγω ὑμῖν, ἀπέχουσιν τὸν μισθὸν αὐτῶν. σὺ δὲ ὅταν προσεύχῃ, εἴσελθε εἰς τὸ ταμεῖόν σου καὶ κλείσας τὴν θύραν σου πρόσευξαι τῷ πατρί σου τῷ ἐν τῷ κρυπτῷ· καὶ ὁ πατήρ σου ὁ βλέπων ἐν τῷ κρυπτῷ ἀποδώσει σοι. Προσευχόμενοι δὲ μὴ βατταλογήσητε ὥσπερ οἱ ἐθνικοί, δοκοῦσιν γὰρ ὅτι ἐν τῇ πολυλογίᾳ αὐτῶν εἰσακουσθήσονται. (Ματθαίος κεφάλαιο 6, στίχοι 5-7)

Et cum oratis, non eritis sicut hypocritae, qui amant in synagogis et in angulis platearum stantes orare, ut videantur ab hominibus. Amen dico vobis: Receperunt mercedem suam. Tu autem cum orabis, intra in cubiculum tuum et, clauso ostio tuo, ora Patrem tuum, qui est in abscondito; et Pater tuus, qui videt in abscondito, reddet tibi. Orantes autem nolite multum loqui sicut ethnici; putant enim quia in multiloquio suo exaudiantur. (Mt. 6,5-7)

Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler! Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer, schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist! Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. (Matthäus Kapitel 6, Vers 5 bis 7)

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Und sehet, es geschah Anfang des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung, dass ein großes Übel über die Menschheit und dieses Übel trug viele Namen. Es war genannt die Scheinheiligkeit, die Heuchelei, das Pharisäertum, die Falschheit. Und jene, die es verstehen, in fremden Zungen zu sprechen, nennen es „Virtue signalling“.

Oder so.

Ich weiß ja nicht, wer damals die Evangelien geschrieben hat, aber wie das Zitat am Anfang zeigt, hat er seine Pappenheimer gekannt und wusste, dass es dem Menschen, zumindest den Exemplaren mit einer charakterlich eher halbseidenen bis negativen Ausprägung, in die Wiege gelegt ist, sich selbst besser darzustellen, als man ist. Es ist die pure Scheinheiligkeit, die die Menschen dazu treibt, sich selbst als moralisch überlegen darzustellen, anstatt tatsächlich einen Beitrag zur Lösung von Problemen oder zu Förderung positiver Veränderungen zu leisten. Für viele, gerade für Menschen die irgendwie in der Öffentlichkeit stehen und einem Publikum gefallen müssen, ist es auch eine Form der Selbstinszenierung, bei der das Ziel mehr darin besteht, das eigene Image zu polieren und den Erwartungen seines Publikums zu entsprechen, als unsere Gesellschaft zum Bessern zu verändern.

Wenn beispielsweise ein Youtuber/Twitcher/Streamer (wie heißen dies Typen richtig?) in einer Gesprächsrunde davon spricht, dass er sich gelegentlich „unkorrekte“ Begriffe denkt (!), aber sehr, sehr hart daran arbeitet, dies nicht mehr zu tun, dann ist das nicht nur lächerlich, sondern auch in höchstem Maße scheinheilig. Wenn sich solche Aussagen dann aber auch noch durch den gesamten Content dieses Youtubers zieht, dann muss man sich schon fragen, zu welchen Grad es sich hier nicht nur um Scheinheiligkeit, sondern um eine bewusste Täuschung oder Unehrlichkeit handelt.*

Mir fällt in dem Kontext ein Zitat aus dem Film „Die Kammer“ (nach einem Roman von John Grisham). Darin spielt Gene Hackman einen Klansman des Ku-Klux-Klans, der für einen Bombenanschlag auf einen jüdischen Menschenrechtsanwalt in der Todeszelle sitzt und mit seinem Enkel über sein Leben spricht. Um diesen Enkel die gesellschaftliche Scheinheiligkeit vor Augen zu führen sagt Hackman in einer Szene: Du fährst in deiner Karre und so ein betrunkener Dschungelaffe schneidet dich, den Ghettoblaster auf voller Lautstärke, was denkst du da? Ach, du verflixter Afroamerikaner, nein, du denkst Ni****. Dieser Satz, in all seiner Brutalität trifft hier den Nagel auf den Kopf. Denn mir kann keiner dieser überkorrekten, scheinheiligen Aktivisten weiß machen, dass sie nicht auch schon einmal solche Gedanken hatten und die absolut nichts „bereut“ oder „reflektiert“ haben.

Tatsächlich erinnern mich solche Selbstdarsteller und Tugendsignalisierer an die Flagellanten der Pestepidemien im 14. Jahrhundert, die sich selbst öffentlich geißelten, um ihre Sünden zu „bereuen“. Heute ist die unblutige Variante der Social-Media-Posts und öffentlichen Gesten an die Stelle der Selbstauspeitschung getreten, aber die falsche Moralität und die Sucht nach Anerkennung und Lob sind gleichgeblieben.

Dieser Mangel an moralischer Substanz ist natürlich per se nicht verwerflich. Verwerflich wird es erst, wenn man versucht, die eigene Tugendhaftigkeit vorzutäuschen, anstatt konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um diese Überzeugungen in die Praxis umzusetzen. Menschen, die dies tun, werden – zu Recht – als oberflächlich und leer empfunden. Auch der Aspekt der Manipulation darf wie gesagt nicht außer Acht gelassen werden. Wer seine Tugendhaftigkeit so herausstellt, quasi sich in ihr suhlt, versucht natürlich die Meinung anderer zu beeinflussen und treibt lieber eine soziale oder politische Agenda voran, als authentisch zu sein.

Tugendheuchelei lenkt natürlich auch von den wirklichen Problemen ab. Wer lieber über seine eigene Scheinheiligkeit redet, verdrängt damit die tatsächliche Lösung der Probleme, da man die Aufmerksamkeit lieber auf sich und seine Heuchelei lenkt. Dazu kommt noch, dass Menschen, die das Gefühl haben, dass Virtue Signalling häufig vorkommt, zynisch werden können und an den tatsächlichen moralischen Überzeugungen aller ihrer Mitmenschen zweifeln. Dies kann zu einem Vertrauensverlust und zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft führen.

Insgesamt ist Virtue Signalling als moralisch verwerflich angesehen werden, wenn es dazu führt, dass Menschen ihre moralischen Überzeugungen und Werte nur oberflächlich bekunden, ohne tatsächlich entsprechend zu handeln oder sich für Veränderungen einzusetzen. Es kann das Vertrauen in moralische Überzeugungen untergraben und echte Bemühungen um positive Veränderungen behindern.

Und daran sieht man, wie egoistisch, ja gewissenlos Menschen sind, die derartiges Virtue Signalling betreiben und damit ihr persönliches Ansehen über das Wohl der Gesellschaft stellen. Da kann man nur sagen: Pfui Deibel. Der fiktive Youtuber/Twitcher/Streamer aus obigen Beispiel rangiert somit charakterlich und moralisch auf der untersten Stufe und sollte sich in Grund und Boden schämen.

Mein Rat: Tut sowas nicht. Menschen halten euch für Arschlöcher. Mich auch. Lebt damit, das tue ich auch. Aber täuscht nichts vor, was ihr nicht seid oder denkt.

*Anmerkung: Dies ist natürlich nur ein fiktives Beispiel, mir ist kein solcher Youtuber/Twitcher/Streamer bekannt. 

7 Gedanken zu “Von der Scheinheiligkeit

  1. Vielleicht nervt es viele, u.a. auch dich, auch einfach deswegen, weil unsere digital vernetzte Gesellschaft da viel „sichtbarer“ geworden ist wenn sich jemand so aufführt und es mehr Leute mitbekommen. Ergo, fühlen sich mehr Leute genervt davon. Was sich wiederum in dementsprechend häufigen Posts, Blogbeiträgen etc. niederschlägt.
    Fazit: Einfach mal den Abschaltknopf dann suchen, wenn es zuviel wird. Und, Leute auch mal vorher fragen, ob sie komplexe politische Fragen/probleme mit einem besprechen wollen oder eben nicht, viele sind einfach oft überfordert damit. Das auch akzeptieren, wenn die Leute nicht wollen.
    Die beschriebenen antrainierten Reflexe, die jeder von uns hat, da ist es aber schon Gegenstand von psychologischen Studien gewesen, ob sich das mit der Zeit verlieren kann und wenn ja, wie. Es klappt nur wenn eine solche negative Gewohnheit/Reflex mit etwas positiveren, besseren ersetzt wird. Das geht jetzt aber schon in die Psychologie rein und führt zu weit. Bin ja da auch Laie.
    Nodody is perfect! Und öfter mal auch dran denken, nicht unbedingt über etwas zu urteilen, was man nicht ganz versteht. Diese Tugend geht gerade in diesem ganzen Talkshowgesabbel a la Markus Lanz und Co. ganz enorm grad den Bach runter! Super nervig.

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    1. Das Problem ist, dass man nicht einfach den Abschaltknopf drücken kann, da einem ständig auch ungefragt das „Virtue signalling“ präsentiert wird.

      Das Marketingteam der Firma drückt einem per interner Emailnachricht aufs Auge, wie engagiert sie doch beim Thema Diversity ist. Wobei „Diversity“ in diesem Fall bedeutet, dass die Kantine eine internationale Woche anbietet oder man sich doch mit seinen Kollegen/Kolleginnnen in einer Fotobox mit netten Schlagwörtern wie Inclusion, Diversity oder Equity auf Pappschildern ablichten lassen kann.

      Oder ein Nachrichtenmagazin bringt einen hochinteressanten Artikel über das Leben Afrodeutscher in den 20er bzw. 50er Jahren und dem Rassismus und den Vorurteilen, den sie ausgesetzt waren, ersetzt aber in historischen(!) Vereinsbezeichnungen bzw. Reden das Wort „Neger“ durch N*, „weil [das N-Wort] heute als verletzend empfunden wird“.

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  2. Eine weitere Erklärung für regelmäßiges Virtue Signalling könnte auch im Phänomen des Gruppendrucks liegen: Man versichert dadurch den anderen Gruppenmitgliedern ständig seine Zuverlässigkeit und Gesinnungstreue. Angst als Motiv funktioniert leider immer wieder … und spielt gerade in ideologiegesteuerten Gruppierungen eine große Rolle.

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  3. > Wenn beispielsweise ein Youtuber/Twitcher/Streamer (wie heißen dies Typen richtig?) in einer Gesprächsrunde davon spricht, dass er sich gelegentlich „unkorrekte“ Begriffe denkt (!), aber sehr, sehr hart daran arbeitet, dies nicht mehr zu tun, dann ist das nicht nur lächerlich, sondern auch in höchstem Maße scheinheilig.

    Waren die Gedanken nicht irgendwann mal frei?
    Mir scheint, dass viele Menschen an einem Kontrollwahn leiden und nicht nur die eigenen, sondern auch die Gedanken anderer zu kontrollieren suchen (auch wenn das nicht möglich ist). Für diese Leute ist es eine narzisstische Kränkung, dass ihr Gegenüber frei denken kann.

    Aber das geht sicher irgendwann auch wieder vorbei.

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  4. „Youtuber/Twitcher/Streamer (wie heißen dies Typen richtig?)“ Die heißen Influenza oder so ähnlich, verursachen zumindest ähnliche Symptome.

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