Über das Recht, sein Steckenpferd zu reiten – oder: Die Höflichkeit der Vernunft

Es gibt Sätze, die auf den ersten Blick unscheinbar wirken und doch ein ganzes Weltbild tragen. Einer davon stammt aus Laurence Sternes Tristram Shandy:

Solange ein Mensch sein Steckenpferd friedlich und ohne Aufsehen auf des Königs Landstraße reitet und weder Sie noch mich zwingt, hinter ihm aufzusitzen – ei, mein Herr –, was geht es dann uns beide an?

Ein Satz, so leicht wie Tee mit Milch, und doch schwer wie ein moralischer Grundstein. Er stellt jene Frage, die Kant als den Prüfstein der Vernunft betrachtete: Wie weit darf Freiheit gehen, ohne zur Anmaßung zu werden? Und wie lässt sich Selbstbestimmung leben, ohne dass sie den anderen verschlingt?

Sternes Steckenpferdreiter ist, wenn man so will, der Urmensch der Aufklärung: er folgt seiner Idee, seiner kleinen Obsession – friedlich, ohne Mission, ohne Propaganda. Kant hätte ihm applaudiert. Denn er handelt nach einer Maxime, die er sich selbst gegeben hat, und zwingt keinen anderen, sie zu übernehmen. Er ist autonom im Sinne der Vernunft, sittlich in seiner Selbstgenügsamkeit.

Aber diese Figur hat in unserer Gegenwart eine unruhige Verwandlung erfahren. Der heutige Mensch reitet nicht mehr still auf der Landstraße – er streamt, postet, verkündet. Das Steckenpferd ist kein Holzross mehr, sondern eine Plattform, ein Profil, ein Algorithmus. Jeder reitet vor Publikum. Und das Publikum applaudiert oder geißelt – je nach Richtung des Galopps.

In den digitalen Echokammern ist das friedliche Reiten längst zur Prozession geworden. Die Landstraße gehört nicht mehr dem König, sondern den Lautesten. Jeder reitet, als müsse er zugleich die Welt bekehren und sich selbst beweisen. Der kategorische Imperativ ist zum Hashtag geworden: „Handle so, dass dein Tweet als moralische Wahrheit viral gehen könnte.“

Unsere Steckenpferde heißen heute: Lebensstil, Meinung, Haltung, Nachhaltigkeit, Spiritualität, politische Identität. Wir zeigen sie vor, als wären sie Pässe unserer Existenz. Wer kein Pferd reitet, gilt als träge, wer das falsche reitet, als Feind.

Dabei hat Sterne, mit einem Lächeln unter der Perücke, das Gegenmittel längst benannt: Höflichkeit.
Nicht die höfliche Fassade des Schweigens, sondern die tiefe, aufklärerische Höflichkeit der Vernunft – jene Haltung, die sagt: „Ich habe recht, aber vielleicht nicht ganz.“

Kant, hätte er Instagram gekannt, hätte uns wohl ermahnt, das „Publikum der Vernunft“ nicht mit dem Publikum der Follower zu verwechseln. Moralisches Handeln, so schrieb er, sei ein Akt der Einsicht, nicht des Beifalls. Freiheit misst sich nicht an Zustimmung, sondern an Selbstprüfung.

So könnte man Sternes Satz heute lesen als stillen Appell zur Gelassenheit im Lärm der Überzeugungen:
Reite dein Steckenpferd – ja, mit Leidenschaft, mit Würde, vielleicht auch mit Eigensinn. Aber verlange nicht, dass jemand hinter dir aufsitzt, nur weil du glaubst, den richtigen Weg zu kennen.

Die wahre Vernunft, so zeigt sich, ist kein Triumphzug, sondern ein höflicher Ritt nebeneinander.
Vielleicht ist das die vergessene Tugend unserer Zeit: die Kunst, recht zu haben, ohne Recht zu behalten.

Und so bleibt Sternes Satz, bei allem Witz, ein ernster:
Er fordert uns auf, in einer Welt der Reiter und Meinungen, die Zügel der Mäßigung zu halten – nicht aus Schwäche, sondern aus Achtung.

Denn nur wer sein Steckenpferd still zu führen weiß, darf hoffen, dass die Landstraße, die uns alle trägt, nicht in ein Schlachtfeld verwandelt wird.

3 Gedanken zu “Über das Recht, sein Steckenpferd zu reiten – oder: Die Höflichkeit der Vernunft

    1. Das Zitat aus Tristram Shandy erinnert an: Jeder soll nach seiner Fasson selig werden

      Sieht man es in diesem Kontext, kommt mir dabei die antike Philosophie in den Sinn, die ja die Zufriedenheit mit sich selbst als Ziel angibt.

      >>Glückseligkeit<< ist für Kant die Befriedigung unserer Neigungen, aber aus der Glückseligkeit folgt für ihn kein moralisches Gebot, kein Sittengesetz, keine Ethik. [1, S. 39]

      Applaudiert also sicher, aber sicher hätte er das „zum Ethischen Grundsatz nicht hinreichend kategorische“ [a.a.O.] angemerkt?

      Oder geht es Ihnen mehr um die aufklärerische Grundhaltung dahinter?

      [1] Becke, Andreas. Wie stoisch ist der stoische Weise? Antike Philosophie als Lebensweisheit. 2023. 1. Auflage. Alibri. Aschaffenburg. ISBN: 978-3-86569-381-5

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      1. Guten Tag

        Vielen Dank für Ihre Antwort und Ihre Frage nach dem Prinzip von Weisheit.Vielen Dank für Ihre Antwort und Ihre Frage nach dem Prinzip von Weisheit.

        Der Grundsatz zum Wissen über sich und über die Dinge und Sachen, die Gesetzmäßigkeiten da draußen, ist im Kern eines jeden Menschen seit jeher festgelegt.
        In jedem Moment ist der Mensch, für dies und das, aufgefordert, seine Entscheidung zu treffen, die er für sich selbst rechtfertigen und verantworten muss.

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