Die dunkle Logik der Dummheit – Bonhoeffer, der Widerstand und das metaphysische Rätsel des Unverstands

Es war einmal ein Mann, ein Theologe, ein Verschwörer, ein Denker inmitten eines Europas, das von seinem eigenen Wahnsinn verschlungen wurde. Dietrich Bonhoeffer, dieser protestantische Märtyrer, der 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg auf Geheiß des Tyrannen ermordet wurde, hinterließ der Nachwelt nicht nur Gebete, nicht nur Predigten, sondern auch eine Theorie, die man in ihrer Brillanz und Verstörung kaum überschätzen kann – die Theorie der Dummheit.

Wie jede große Idee wurzelt sie nicht im Elfenbeinturm, sondern im Morast der Geschichte. Bonhoeffer beobachtete – mit dem Blick eines Mannes, der sowohl Gott als auch den Menschen kannte – wie das Dritte Reich nicht nur durch fanatische Ideologie oder sadistische Gewalt stabilisiert wurde, sondern durch eine viel profanere Kraft: durch Dummheit.

„Gegen Dummheit sind wir wehrlos.“
– Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 1943

Bereits dieser erste Satz, der als aphoristischer Monolith in seinen Gefängnisbriefen erscheint, gleicht einer Bombe im diskursiven Terrain der politischen Philosophie. Nicht der böse Wille, nicht der kalkulierte Nihilismus, sondern die Dummheit – dieses unscheinbare, alltägliche, ja fast niedliche Übel – erweist sich als die tragende Säule totalitärer Systeme.

Die semantische Anatomie der Dummheit

Wenn Bonhoeffer von „Dummheit“ spricht, so ist dies keine beiläufige Zuschreibung, kein moralisierender Impuls aus der Kränkung der Intelligenz. Vielmehr handelt es sich um einen präzise gesetzten Terminus technicus, der eine spezifische anthropologische Konfiguration beschreibt. Um die Tiefe seines Denkens zu erfassen, müssen wir die semantische Topographie dieses Begriffs kartieren – mit dem feinen Instrumentarium des Philosophen, des Theologen und, ja, auch des Semiotikers.

Denn, wie etwa Eco nicht müde wurde zu betonen: Wörter sind keine neutralen Gefäße. Sie sind ideologische Wesen, die in Geschichte und Machtverhältnissen sedimentiert sind. Der Begriff der Dummheit trägt ein besonderes semantisches Paradox in sich: Er scheint auf den ersten Blick ein intellektueller Makel zu sein – ein Mangel an kognitiven Fähigkeiten, an Bildung, an Ratio. Doch Bonhoeffer dekonstruiert diese Konvention radikal.

„Dummheit ist weniger ein intellektueller Defekt als ein moralisches Versagen.“
– könnte man seine These paraphrasieren.

Dummheit – im bonhoefferschen Sinne – ist nicht Unwissenheit. Wer nichts weiß, ist nicht notwendigerweise dumm, sondern womöglich bloß ein Novize, ein Lernender, ein Suchender. Der Dumme hingegen verweigert das Lernen. Nicht weil er nicht kann, sondern weil er nicht will. Das ist der erste entscheidende semantische Bruch: Dummheit ist eine Willensentscheidung.

Sie ist damit, um es in den Begriffen des Mittelalters zu sagen, keine defectus intellectus, sondern ein defectus voluntatis. Der Dumme hat nicht nur keinen Zugang zur Wahrheit – er hat sie abgewählt. Seine Urteilskraft ist nicht geschwächt, sondern suspendiert.

„In Gesprächen mit ihm merkt man plötzlich, dass man es gar nicht mit ihm selbst, sondern mit Slogans, Parolen usw. zu tun hat, die sich seiner bemächtigt haben.“
– Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung

Hier wird der Dumme zu einer Art Wirt für sprachliche Parasiten. Er spricht nicht mehr, sondern wird gesprochen. Er ist nicht Autor, sondern Medium – ein lebender Lautsprecher fremder Interessen. In dieser Hinsicht ist der Dumme nicht nur Objekt, sondern Subjekt der Ideologie. Eine Feststellung, die bei Althusser wohl ein zustimmendes Nicken provoziert hätte.

Sein Bewusstsein ist besetzt – nicht durch Argumente, sondern durch Narrative. Das ist der Punkt, an dem auf die narrativen Systeme der Macht verwiesen werden muss: auf jene Fiktionen, die sich als Wahrheit verkleiden, um sich im kollektiven Unbewussten einzunisten. Der Dumme erkennt diese Fiktionen nicht als solche, weil er aufgehört hat, sie zu befragen. Er hat – semantisch gesprochen – die Fähigkeit zur Ironie verloren.

Ein ironiefähiger Mensch erkennt, dass ein Satz nicht einfach ist, sondern immer auch meint, dass Bedeutung nie identisch mit dem Zeichen ist. Die Dummheit hingegen, so Bonhoeffer implizit, lebt in der wörtlichen Welt. Sie ist buchstäblich, naiv, unironisch – und darin liegt ihre Gefahr. Denn die Unfähigkeit zur Distanz ist die Voraussetzung für das Funktionieren totalitärer Sprache.

„Die Sprache des Dummen ist nicht seine eigene, sondern die Sprache der Macht.“
– eine These, die man mit Roland Barthes‘ Begriff der mythischen Sprache weiter entfalten könnte.

Der Dumme ist nicht derjenige, der irrt – denn Irrtum ist fruchtbar, Irrtum ist Erkenntnismöglichkeit. Nein, der Dumme ist der, der nicht denkt. Und schlimmer noch: Er fühlt sich im Besitz der Wahrheit. Eine Art epistemologischer Narzissmus liegt in ihm, eine unerschütterliche Selbstgewissheit, die nicht zu erschüttern ist, weil sie nicht aus Reflexion, sondern aus Konformität geboren wurde.

In diesem Sinne wird Dummheit zu einer Pathologie des Kollektivs. Nicht der Einsame, der Lesende, der Fragende ist gefährlich – sondern der Angepasste, der Mitläufer, der Wiederholer. Bonhoeffer beschreibt damit kein individuelles Scheitern, sondern ein kulturelles Syndrom. Eine Art viralen Semiologismus, der sich epidemisch verbreitet und den öffentlichen Diskurs zersetzt.

Man könnte sagen: Die Dummheit ist das Signifikat ohne Signifikanten. Sie redet – aber sagt nichts. Sie glaubt – aber versteht nicht. Sie handelt – aber denkt nicht.

Der Dumme im bonhoefferschen Sinne lebt in einer hermetischen Welt. Nicht weil er isoliert wäre, sondern weil er durchdrungen ist von einem System, das keine Alternative mehr kennt. Das ist der wahre Skandal: Die Dummheit als System – nicht als Ausnahme.

So wird Bonhoeffers Dummheit zur Chiffre für ein metaphysisches Phänomen: Die Verweigerung der Verantwortung unter dem Deckmantel der Harmlosigkeit. Eine Haltung, die sich immer als „normal“ ausgibt – und gerade deshalb so gefährlich ist.

„Das Böse nimmt oft die Maske der Dummheit an – weil es sich so unverdächtig geben kann.“
– so ließe sich Bonhoeffer zusammenfassen, mit einem Anklang an Hannah Arendts „Banalität des Bösen“.

Was Bonhoeffer zeigt, ist nicht weniger als ein hermeneutischer Schock: Dummheit ist keine individuelle Schwäche, sondern ein kulturelles Drama. Ein Drama, das sich im Text, im Diskurs, in der Sprache selbst vollzieht.

Das Phänomen der kollektiven Besitzergreifung

Wenn Bonhoeffer die Dummheit nicht als individuelles, sondern als soziales Phänomen beschreibt, so ist das kein rhetorischer Kunstgriff, sondern eine präzise Beobachtung aus den innersten Zirkeln eines totalitären Systems. Die Dummheit tritt nicht vereinzelt auf, wie ein Defekt der Biografie oder ein Missgeschick der Bildung. Sie organisiert sich, sie aggregiert, sie vernetzt sich in der Masse und entfaltet dort ihre eigentliche zerstörerische Potenz.

Die tiefere Tragik liegt in der Feststellung, dass Individuen, die in der Isolation – etwa im privaten Raum oder im geschützten akademischen Kontext – durchaus zu klarem, moralisch fundiertem und differenziertem Denken fähig sind, in dem Moment, in dem sie sich der Dynamik einer Gruppe aussetzen, diese Urteilskraft verlieren. Nicht, weil sie verführt würden wie in einem klassischen Drama der Verführung, sondern weil sie sich freiwillig in ein geistiges Kollektiv entleiben.

„In der Gemeinschaft scheint der Mensch eine Art intellektuelles Eigenleben zu verlieren und wird Teil eines Denkens, das nicht mehr ihm selbst gehört.“

Dieser Zustand, den Bonhoeffer in den Briefen aus der Haft immer wieder andeutet, ist nicht einfach soziale Anpassung, sondern ein psychischer Prozess tiefer Umformung: Der Mensch gibt seine Selbständigkeit ab – nicht unter Zwang, sondern im Tausch gegen Sicherheit, Zugehörigkeit und geistige Entlastung.

Dieses Phänomen ist mehr als Gruppendruck; es ist eine Form der Besitzergreifung. Die Dummheit „bemächtigt“ sich des Menschen, schreibt Bonhoeffer. Das ist ein starkes Wort. Es erinnert an alte Vorstellungen von Besessenheit, an dämonische Theologien, in denen der Wille des Menschen durch eine fremde Macht ersetzt wird. Der Dumme denkt nicht mehr selbst, sondern wird gedacht. Seine Sprache, seine Werte, seine Urteile sind nicht mehr originär, sondern Reproduktionen eines kollektiven Musters.

Diese kollektive Dummheit ist hochgradig effizient: Sie immunisiert sich gegen Argumente, sie entzieht sich der Verantwortung, sie produziert Konformität. Man könnte sagen: Sie ist die Matrix jedes autoritären Systems. Denn dort, wo sich die Einzelnen in der Masse verlieren, entsteht jene Form von moralischer Verantwortungslosigkeit, die große historische Verbrechen überhaupt erst ermöglicht.

„In der Dummheit liegt nicht der Mangel an Intelligenz, sondern der Verzicht auf moralische Selbstverantwortung.“

Das Besondere an Bonhoeffers Analyse ist, dass sie weder elitär noch zynisch ist. Er verachtet die Dummen nicht. Er diagnostiziert. Er erkennt, dass die Dummheit, die sich kollektiv formiert, nicht durch intellektuelle Schwäche entsteht, sondern durch einen Willensakt der Bequemlichkeit – durch das freiwillige Einverständnis, sich nicht mehr dem inneren Dialog zwischen Gewissen und Vernunft auszusetzen.

In der Gruppe werden die Menschen nicht nur dümmer, sie werden auch gefährlicher. Denn die Gruppe bietet Deckung. Der Einzelne kann sich auf die anderen berufen: „Alle denken so“, „Das war doch Konsens“, „Das haben wir gemeinsam beschlossen.“ Die Verantwortung zersplittert und verdunstet im kollektiven Raum. Kein Täter, nur Mitläufer.

Was in diesem Mechanismus entsteht, ist eine Art moralischer Anästhesie. Die Beteiligten spüren nicht mehr, was sie tun. Sie handeln gemäß einem mentalen Automatiksystem, das ihnen Entscheidungen abnimmt – und dadurch auch die Reue, die Schuld, die Gewissensprüfung.

Diese kollektive Besitzergreifung ist daher nicht bloß ein soziologisches Phänomen, sondern eine ethische Katastrophe. Denn sie zerstört die Grundlagen des Menschseins: die Freiheit zur Entscheidung, zur Reflexion, zur Reue. Der Mensch wird ersetzbar, tauschbar, manipulierbar – solange er spricht wie alle, denkt wie alle, fühlt wie alle.

Und gerade darin liegt die tiefe Bedrohung: Die Dummheit als Kollektivzustand erkennt sich selbst nicht als Dummheit. Sie tritt auf als Mehrheitsmeinung, als gesunder Menschenverstand, als Volksempfinden. Sie ist normal, gewöhnlich, unspektakulär – und eben deshalb so mächtig. Niemand will dumm sein, doch viele ziehen die Sicherheit kollektiver Unmündigkeit der Einsamkeit des Zweifelns vor.

Bonhoeffer hat dieses Phänomen mit einer Nüchternheit beschrieben, die nichts Karikierendes an sich hat. Er sah es in den Menschen, denen er täglich begegnete – in Mitläufern, Funktionären, Parteigenossen, aber auch in gläubigen Christen, Beamten, Nachbarn. Es war kein Sonderzustand. Es war die Normalität einer Gesellschaft im Zustand des geistigen Rückzugs.

In dieser Normalität wurde das Gewissen suspendiert, das Denken verflacht, das Sprechen monoton. Und so war der Weg frei für das, was Bonhoeffer als das wahre Grauen betrachtete: dass nicht die Böswilligen, sondern die Gleichgültigen, nicht die Sadisten, sondern die Dummen den Weg für das Unrecht bereiten.

Am Ende bleibt bei Bonhoeffer die bittere Einsicht: Der größte Feind der Freiheit ist nicht der Tyrann, sondern der Mensch, der ihm aus Bequemlichkeit seinen Verstand schenkt.

Macht und Dummheit: Eine gefährliche Liaison

Die Verbindung von Dummheit und Macht ist keine zufällige, keine bloß gelegentliche Koinzidenz zweier sozialer Phänomene. Sie ist strukturell, beinahe zwangsläufig – und genau das macht sie so beunruhigend. Bonhoeffer sah klar, dass Dummheit nicht nur durch Macht gefördert wird, sondern von ihr aktiv benötigt wird. Macht sucht nicht die Vernunft, sie duldet sie bestenfalls. Was sie jedoch bevorzugt, ist die Gehorsamsbereitschaft – und dafür ist die Dummheit der ideale Resonanzkörper.

„Die Dummen sind oft williger als die Bösen, die Ziele der Mächtigen zu fördern.“
– so ließe sich Bonhoeffers Grundintuition pointiert zusammenfassen.

Dummheit in dieser Perspektive ist kein Defizit, sondern eine strategische Ressource. Die Mächtigen, die sich ihrer bedienen, brauchen keine überzeugten Anhänger. Sie brauchen bloß Menschen, die aufhören zu fragen. Menschen, die Wiederholen statt Denken, Beifall spenden statt abwägen, teilen statt prüfen. Die schlimmsten politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts – die Bonhoeffer am eigenen Leib erlebte – waren nicht durch die intellektuelle Brillanz ihrer Urheber gefährlich, sondern durch die geistige Unterwerfung ihrer Vollstrecker.

Diese Diagnose trägt sich unheimlich in unsere Gegenwart hinein – subtil transformiert durch neue Technologien, aber im Kern ungebrochen. Die digitalen Netzwerke unserer Zeit, in denen Information nicht mehr in sorgfältig kuratierter Form fließt, sondern algorithmisch beschleunigt, fragmentiert und entkontextualisiert, haben eine neue Arena kollektiver Dummheit geschaffen.

Die Macht von heute tritt selten im Gewand des Diktators auf. Sie spricht in Likes, in Trends, in emotionalisierten Halbsätzen. Sie funktioniert nicht mehr primär durch Zwang, sondern durch Aufmerksamkeit – und durch freiwillige Preisgabe kritischer Distanz. Die moderne Form der kollektiven Besitzergreifung geschieht in Feeds und Timelines: durch virale Inhalte, die sich der Prüfung entziehen, weil sie sich an die Affekte, nicht an die Vernunft wenden.

Die digitale Dummheit ist schnell, laut, sicher. Sie duldet keinen Zweifel, weil Zweifel den Rhythmus stört. Wer zögert, wer befragt, wer differenziert, wird aus dem Strom gespült. Und so entsteht, auch ohne sichtbaren Tyrannen, ein Klima der Unmündigkeit – nur scheinbar demokratisch, tatsächlich aber strukturell manipulativ. Denn dort, wo Algorithmen die Sichtbarkeit von Gedanken steuern, ist Freiheit kein Ideal mehr, sondern eine Illusion.

„Die Dummheit ist manipulierbarer als die Bösartigkeit.“
– Bonhoeffers Satz trifft heute auf eine Gesellschaft zu, die ihre Überzeugungen zunehmend aus aggregierten Meinungen bezieht, nicht aus geprüftem Wissen.

Dabei ist nicht jeder Irrtum Dummheit. Im Gegenteil: Der produktive Irrtum ist das Herz jedes Lernprozesses. Die Dummheit jedoch beginnt dort, wo der Irrtum nicht mehr eingestanden, sondern verteidigt wird. Wo Argumente nicht geprüft, sondern durch Lautstärke ersetzt werden. Wo die Suche nach Wahrheit durch die Behauptung von Authentizität abgelöst wird. Und wo Wahrheit nicht mehr das Ergebnis eines Dialogs ist, sondern das Produkt algorithmischer Verstärkung.

Die neue Macht der Dummheit zeigt sich also nicht nur in autoritären Regimen, sondern auch in demokratisch legitimierten Öffentlichkeiten, die zunehmend ihre eigenen epistemischen Grundlagen verlieren. Eine Gesellschaft, die ihre Debatten im Modus der Empörung führt, in der Emotionalisierung belohnt und Differenzierung bestraft wird, hat Bonhoeffers Warnung nicht verstanden.

Denn das Böse – das war Bonhoeffers bittere Einsicht – benötigt nicht viele Überzeugte. Es braucht nur genügend Gleichgültige. Genügend Menschen, die sich vor dem Denken scheuen, weil es anstrengend, zweideutig, unbequem ist. Macht gedeiht nicht, wo sie hinterfragt wird, sondern wo man sich mit ihr arrangiert. Dummheit ist nicht die Voraussetzung für alle Herrschaft, aber sie ist die ideale Bedingung für ihre ungehinderte Ausbreitung.

Die Liaison zwischen Macht und Dummheit ist deshalb so gefährlich, weil sie sich als harmlos gibt. Sie tritt auf als Unterhaltung, als gesunder Menschenverstand, als Mehrheitsmeinung. Ihre Sprache ist einfach, ihre Ziele sind klar, ihr Feindbild leicht verfügbar. Doch genau darin liegt ihre verheerende Effizienz: Sie verführt, weil sie entlastet.

„Der Dumme wird gefährlich, weil er mit sich selbst im Reinen ist.“
– schrieb Bonhoeffer. Und das ist die wahre Tragik: Die Dummheit hat kein Gewissen. Sie hat nur Gewissheiten.

Der Ausweg: Die ethische Intelligenz

Angesichts der beklemmenden Diagnose Bonhoeffers – dass die Dummheit kein individuelles Versagen, sondern ein soziales Phänomen sei, das sich im Schatten der Macht unbemerkt verfestige – stellt sich unausweichlich die Frage: Gibt es einen Ausweg? Wenn der Mensch sich selbst entmachtet, wenn er sich freiwillig der Urteilskraft entledigt, kann es dann überhaupt noch eine Rückkehr zur Freiheit des Denkens und Handelns geben?

Bonhoeffer antwortet auf diese Frage nicht mit einem politischen Programm, auch nicht mit einem pädagogischen Appell. Sein Ansatz ist radikaler, aber auch existenzieller: Er plädiert für eine Form von Intelligenz, die mehr ist als reine Kognition – eine ethische Intelligenz, verwurzelt im Mut zur Wahrheit und in der Bereitschaft zur Verantwortung.

„Die innere Befreiung des Menschen beginnt nicht mit Wissen, sondern mit der Anerkennung des Gewissens.“

Ethische Intelligenz bedeutet also nicht bloß, zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können, sondern sich in diesen Unterscheidungen selbst zu engagieren. Sie ist eine Form von gelebtem Denken – keine abstrakte Rationalität, sondern ein tätiges Wissen, das sich im Alltag bewährt, im Widerspruch standhält, in der Einsamkeit nicht zerbricht.

Dieser Begriff der Intelligenz hat eine doppelte Tiefenschärfe:
Er ist intellektuell – weil er auf Bildung, Analyse, Reflexion beruht –
und er ist moralisch – weil er Verantwortung, Einfühlung und Unbequemlichkeit in sich trägt.

Die ethische Intelligenz ist deshalb kein Massenphänomen. Sie gedeiht in der Stille, im aufrechten Alleinsein, in der Treue zum Unspektakulären. Dort, wo Menschen sich weigern, ihre Urteilskraft an Ideologien zu delegieren. Wo sie bereit sind, nicht mitzuschwimmen, wenn der Strom der Mehrheit in Richtung bequemer Unwahrheit fließt.

„Widerstand beginnt im Kopf – aber er besteht im Herzen.“
– eine bonhoeffersche Maxime, unausgesprochen, aber durchgängig präsent.

Ethische Intelligenz bedeutet, sich selbst nicht zu trauen, wenn der innere Beifall zu laut wird. Sie verlangt, dem eigenen Denken zu misstrauen, wenn es zu glatt läuft, wenn es keine Reibung mehr erfährt. Sie ist eine Kultur des Zweifelns – aber nicht aus Zynismus, sondern aus Achtung vor der Komplexität der Welt und vor dem anderen Menschen.

Der ethisch Intelligente ist nicht der Klügere, sondern der Verantwortlichere. Er denkt weiter, weil er nicht bei sich selbst stehenbleibt. Er spricht nicht, um zu glänzen, sondern um zu dienen. Er verzichtet auf das letzte Wort, wenn es dem anderen das erste eröffnen könnte.

In einer Zeit, in der Information in Überfluss vorhanden ist, aber Einsicht zur Mangelware wird, ist die ethische Intelligenz eine Form geistiger Askese. Sie verweigert sich der Beschleunigung, der Überzeugungskraft des Lauten, der Versuchung der emotionalen Kurzschlüsse. Sie fragt: „Was folgt daraus?“ – und: „Wem nützt das?“ – und: „Würde ich das auch dann sagen, wenn niemand zustimmt?“

Diese Form des Denkens ist langsam, aber tragfähig. Sie ist verletzlich, aber stark. Sie ist unbequem – aber frei.

Synthese und Ausblick

Am Ende seiner Überlegungen zur Dummheit steht Bonhoeffer nicht resigniert vor dem Abgrund, sondern seltsam ruhig. Seine Analyse ist scharf, seine Sprache nüchtern, seine Gedanken unerbittlich – und dennoch bewahrt er eine Hoffnung, die tiefer reicht als Optimismus: die Hoffnung auf die Rückkehr des aufrechten Menschen.

Dieser Mensch ist kein Held, kein Prediger, kein Rebell im spektakulären Sinne. Er ist jemand, der denkt, wenn andere gehorchen. Der schweigt, wenn das Gebrüll anschwillt. Der Fragen stellt, wo andere Sätze beenden. Dieser Mensch ist selten, aber unersetzlich. Er ist der Knotenpunkt ethischer Kultur, der Beweis dafür, dass Freiheit nicht in der Masse liegt, sondern im Einzelnen, der sich weigert, seine Menschlichkeit zu verraten.

Was Bonhoeffer letztlich bietet, ist kein Trost, sondern ein Prüfstein. Seine Theorie der Dummheit ist eine Einladung zur Selbstprüfung: Bin ich Teil eines fremden Denkens geworden? Wiederhole ich nur, was alle sagen? Habe ich aufgehört, mir selbst zuzuhören? Und: Würde ich das, was ich sage, auch sagen, wenn niemand neben mir stünde?

Diese Fragen sind unbequem. Aber sie sind die Schwelle zur Freiheit.

In einer Welt, in der sich Meinung schneller verbreitet als Wahrheit, in der das Kollektiv allgegenwärtig ist – in Algorithmen, in Medien, in Stimmungen – ist die ethische Intelligenz kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Sie ist die einzige Kraft, die der Verbindung von Macht und Dummheit entgegentreten kann: still, standhaft, unaufdringlich.

Denn wo das Denken wieder zu einem Akt des Gewissens wird, dort beginnt die Auflösung der kollektiven Dummheit.

Nicht auf einen Schlag. Nicht als Revolution. Sondern in kleinen, unscheinbaren Akten des Mutes: im Widerspruch, im Fragen, im Zuhören, im Verweigern. In der Geduld.

Und vielleicht, so Bonhoeffers unausgesprochene Hoffnung, liegt in dieser Geduld eine neue Form von Widerstand – leise, aber standhaft. Eine, die nicht gegen Menschen gerichtet ist, sondern für das Menschliche. Eine, die nicht zerstören will, sondern aufrichten. Nicht brillieren, sondern verstehen.

Eine Intelligenz, die befreit – weil sie liebt.

Epilog: Die Ewigkeit der Dummheit

Bonhoeffers Theorie ist kein historisches Kuriosum. Sie ist heute aktueller denn je. In einer Welt der Algorithmen, Filterblasen, der Multiplikation von Meinung ohne Urteil, erscheint die Dummheit nicht als Ausnahme, sondern als Strukturprinzip. Die soziale Medienlogik – virale Empörung, geteilte Unwahrheit, geskriptete Slogans – ist die perfekte Brutstätte der bonhoefferschen Dummheit.

Der Dumme, der heute in Kommentaren wütet, ist nicht der primitive Barbar – er ist der digital kodierte Bürger, der Parolen liked, Memes teilt und die Komplexität der Welt in binäre Kategorien zerhackt. Bonhoeffer würde ihn sofort erkennen.

Und so bleibt nur ein letztes Zitat, als Warnung, als Hoffnung:

„Die innere Befreiung des Menschen zur verantwortlichen Entscheidung ist der einzig mögliche Weg zur Überwindung der Dummheit.“
– Dietrich Bonhoeffer

Vielleicht liegt die Zukunft der Vernunft nicht in der Datenverarbeitung, sondern in der Rückkehr zur Ethik. Und vielleicht ist Dummheit keine Schwäche des Geistes, sondern eine Form des Bösen.

3 Gedanken zu “Die dunkle Logik der Dummheit – Bonhoeffer, der Widerstand und das metaphysische Rätsel des Unverstands

  1. Zitat:e

    „Die innere Befreiung des Menschen zur verantwortlichen Entscheidung ist der einzig mögliche Weg zur Überwindung der Dummheit.“

    „Die innere Befreiung des Menschen zur verantwortlichen Entscheidung ist der einzig mögliche Weg zur Überwindung der Dummheit.“

    Kommentar:

    Vom inneren Beifall, kein Ereignis, keine Rede, keine Botschaft. Das Unbewusste, als Urquell, das was den Menschen in allem ausmacht. Der eigenen Dummheit, der eigenen Bosheit, seit der Kindheit auf der Spur. Die Arbeit daran, die nie zu Ende kommt. Nicht die Dummheit der anderen, macht mir das Leben so schwer, es ist die meinige; habe ich für mich selbst entschieden und nichts mehr.

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  2. Die Assoziation zu Hannah Arendts Buch über Eichmann kam mir quasi auch fast sofort.

    Dummheit, Spießertum und Heßlinge…

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    1. Die Banalität des Bösen: „deswegen musste er sterben“ Die Todesstrafe ist keine Strafe, sie ist Mord. Die Menschenwürde ist universell, unteilbar und absolut. Gegen meine Dummheit bin ich nicht wehrlos, ich will mich gegen das eigene Böse, im Dialog mit mir selber tagtäglich stellen.

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