Das Thema Okkultismus in der Zeit des Nationalsozialismus zu bewerten und zusammenzufassen ist nicht einfach, die Haltung dazu war nämlich äußerst ambivalent.
Im Nationalsozialismus steckte tatsächlich viel Okkultismus drin, hauptsächlich Anleihen aus Theosophie und Ariosophie, garniert mit okkultistischem Antisemitismus der Thule-Gesellschaft. Hitler selbst war dem Okkultismus auch nicht abgeneigt, schlussendlich misstraute er aber den Protagonisten dieser Bewegung und wollte sich nicht in Abhängigkeit begeben. Andere Mitglieder seines Führungskaders, wie etwa Hans Frank, Julius Streicher oder Alfred Rosenberg waren zwar Mitglieder der Thule-Gesellschaft, ihr Interesse an Okkultismus wurde aber schon bald von einem gewissen Pragmatismus des politischen Alltags abgelöst.
Große Anhänger und Verfechter des Okkultismus waren hingegen Rudolf Heß und Heinrich Himmler. Rudolf Heß beschäftigte sich mit so gut wie allen Strömungen von Ariosophie bis Zahlenmystik. Als Heß nach seinem England-Flug in Mytchett House gefangen gehalten wurde, witzelten seine Bewacher, er würde noch nicht einmal die Toilette aufsuchen ohne sich vorher ein Horoskop dafür anfertigen zu lassen. Innerhalb der NS-Führungsriege trug Hess übrigens den Spitznamen „Yogi aus Ägypten“, was auf seinen Geburtsort Alexandria in Ägypten anspielte. Besonders die Astrologie hatte es ihm angetan und dass, obwohl es in einem Aufsatz vom 4. Januar 1936 in den „Nationalsozialistischen Monatsheften“ hieß: Die Astrologie ist orientalischer Herkunft und mit keinen Mitteln zu germanisieren. Sie widerspricht grundlegend allen unseren Anschauungen und gehört zu den volksschädlichen Einrichtungen, mit denen wir so schnell wie möglich aufzuräumen haben. Wir können keine Lehre brauchen, die die Volksseele vergiftet und unseren Volksgenossen den eigenen Willen raubt. Wir können keine Mitläufer brauchen, die am Gängelband des Sterndeuters gehen, sondern nur Menschen mit offenem Blick und zielbewußtem Handeln, die auf des Führers Wort hören.
Je weiter die Zeit voranschritt, hatte Heß immer größere Auseinandersetzungen mit Goebbels, Heydrich oder Bormann über dieses Thema. Ja selbst mit Hitler hatte Heß erhebliche Meinungsverschiedenheiten hierüber.
Auch Heinrich Himmler war ebenfalls stark esoterisch-okkultistisch interessiert. Dieses Interesse führt aber immer wieder zu den rassischen Vorstellungen der Nationalsozialisten, wie es sich beispielsweise in der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V. zeigt. Für Himmler scheint der Okkultismus bzw. die Esoterik vor allem als spirituelle Rechtfertigung von Rassenwahn und Ostkolonisation wichtig gewesen zu sein. Letztendlich ließ man ihn gewähren, weil er diese okkultistischen Interessen nicht nach außen trug oder gar propagierte.
Joseph Goebbels wiederum lehnte alles was auch nur ansatzweise esoterisch oder okkultistisch schien, rigoros ab. In seinen Tagebüchern finden wir dutzende von Stellen, in denen er sich über die „Narreteien“ von Hess (der in dieser Hinsicht sein Lieblingsziel war) ausließ und lustig machte.
Julius Streicher, ebenfalls Mitglied der Thule-Gesellschaft, war bei der Ariosophie weniger von der okkulten Seite interessiert, sondern von der antisemitisch-rassistischen her. Bei ihm waren Okkultismus und Esoterik eher Mittel zum Zweck.
Für den größten Teil der NS-Führungsriege spielten Okkultismus und Esoterik keine Rolle. Baldur von Schirach, Hjalmar Schacht, Albert Speer oder Martin Bormann zeigten keinerlei Interesse an derartigen Themen. Bormann lehnte Okkultismus, Esoterik und Spiritismus jeder Art sogar kategorisch ab.
So verwundert es nicht, dass bereits 1933 okkultistische und esoterische Vereinigungen als „staatsfeindliche Sekten“ eingestuft und teilweise vom SD, dem Sicherheitsdienst der SS überwacht wurden. Auch wurden gegen einige Astrologen Berufsverbote verhängt. Am 1. November 1934 wurde die Anthroposophische Gesellschaft verboten und bis 1938 wurden von acht existierenden Waldorfschulen fünf durch Verbot oder Selbstauflösung geschlossen. Allerdings wurde die anthroposophische Heilpädagogik und biologisch-dynamische Landwirtschaft von Himmler persönlich geschützt. Zum 20. Juli 1937 wurde der Befehl von Reinhard Heydrich zur „Auflösung freimaurerlogenähnlicher Organisationen“ veröffentlicht.
Den letztendlichen „Todesstoß“ versetzte den esoterischen, okkultistischen und spiritistischen Gruppen und Bewegungen allerdings Rudolf Heß; und zwar mit seinem England-Flug.
Rudolf Heß war darüber, dass zwei „urgermanische“ Völker wie England und Deutschland im Krieg lagen, schon längere Zeit beunruhigt und entwickelte gemeinsam mit Karl und Albrecht Haushofer den Plan zu einer Friedensmission, die er selbst durchführen wollte. Er plante, nach Dungavel Castle in Schottland zu fliegen und mit Douglas Douglas-Hamilton, den 14. Duke of Hamilton persönlich über einen Friedensschluss zu verhandeln.
Als dann sein persönlicher Astrologe Ernst Schulte Strathaus ein Horoskop für Heß erstellte, in dem für den 10. Mai 1941 ein erfolgversprechender Tag für das Unternehmen vorhersagte und dies von der Astrologin Maria Nagengast bestätigt wurde, startete Heß an diesem Tag um 18.10 Uhr mit einer Messerschmitt Bf 110 vom Fliegerhorst Haunstetten bei Augsburg.
Rudolf Heß hatte vor seinem Start einen Brief an Hitler geschrieben und seinen Adjutanten Karlheinz Pintsch beauftragt, diesen zuzustellen. Hitler tobte natürlich, als er den Brief gelesen hatte, den Pintsch ihm am nächsten Tag übergab. Albert Speer spricht in seinen Memoiren von einem „unartikulierten, fast tierischen Laut“, den Hitler von sich gegeben haben soll. Pintsch wiederum erklärte, Hitler hätte gefasst reagiert und wäre in die Pläne eingeweiht gewesen. Auch wäre der Flug mit der britischen Seite abgestimmt gewesen. Welche Version nun stimmt, werden wir heute nicht mehr endgültig klären können. Das gehört aber auch nicht hierher, werfen wir lieber einen Blick auf die Ereignisse, die als Reaktion auf die „Friedensmission“ von Rudolf Heß erfolgten.
Am 12. Mai 1941 um 21 Uhr verkündete der Großdeutsche Rundfunk folgende Erklärung: Parteigenosse Heß, dem es auf Grund einer seit Jahren fortschreitenden Krankheit vom Führer strengstens verboten war, sich noch weiter fliegerisch zu betätigen, hat, entgegen diesem vorliegenden Befehl, es vermocht, sich in letzter Zeit wieder in den Besitz eines Flugzeugs zu bringen. Am Samstag, dem 10. Mai, gegen 18 Uhr, startete Parteigenosse Heß in Augsburg wieder zu einem Flug, von dem er bis zum heutigen Tag nicht zurückgekehrt ist. Ein zurückgelassener Brief zeigte in seiner Verworrenheit leider die Spuren einer geistigen Zerrüttung, die befürchten läßt, daß Parteigenosse Heß das Opfer von Wahnvorstellungen wurde […]. Unter diesen Umständen muß also leider die nationalsozialistische Bewegung damit rechnen, daß Parteigenosse Heß auf seinem Flug irgendwo abgestürzt bzw. verunglückt ist.
Und am Nachmittag des 13. Mai 1941 berief Hitler alle Reichs- und Gauleiter der NSDAP zusammen. Nach einer Aussage von Hans Frank erklärte er während dieses Treffens: Heß ist vor allem ein Deserteur, und wenn ich ihn je erwische, büßt er für diese Tat als gemeiner Landesverräter. Im übrigen scheint mir dieser Schritt stärkstens mitveranlaßt zu sein von dem astrologischen Klüngel, den Heß um sich in Einfluß hielt. Es ist daher Zeit, mit diesem Sterndeuterunfug radikal aufzuräumen.
Joseph Goebbels vermerkte am 14. Mai in seinem Tagebuch: So ein Narr war der nächste Mann nach dem Führer. Es ist kaum auszudenken. Seine Briefe strotzen von einem unausgegorenen Okkultismus. Prof. Haushofer und seine Frau, die alte Heß, sind dabei die bösen Geister gewesen. Sie haben ihren ‚Großen‘ künstlich in diese Rolle hineingesteigert. Er hat auch Gesichte gehabt, sich Horoskope stellen lassen u. ä. Schwindel. So was regiert Deutschland. Das Ganze ist aus der Atmosphäre seines Gesundlebens und seiner Grasfresserei erklärbar.
Am gleichen Tag unterrichtete Bormann Heydrich, dass Hitler wünschte, daß mit den schärfsten Mitteln gegen Okkultisten, Astrologen, Kurpfuscher und dergl, die das Volk zur Dummheit und Aberglauben verführen, vorgegangen werde.
Den offiziellen Befehl hierzu erließ am 15. Mai Joseph Goebbels. Er schreibt dazu in seinem Tagebuch: Ich gebe einen scharfen Erlaß gegen Okkultismus, Hellseherei etc. heraus. Dieser ganze obskure Schwindel wird nun endgültig ausgerottet. Die Wundermänner, Heß’ Lieblinge, werden hinter Schloß und Riegel gesetzt. Anweisung an die Gaue, die Partei über den Tatbestand aufzuklären.
Beauftragt mit der Umsetzung dieses Befehls wurde Reinhard Heydrich. Er begann am 4. Juni 1941 mit der „Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften“, kurz „Sonderaktion Rudolf Heß“ oder „, indem er alle Leiter der Staatspolizei, die SD-Abschnitte und die Kriminalpolizeistellen im gesamten Deutschen Reich und einigen besetzten Gebieten mit einem geheimen Schnellbrief darüber informierte, dass am 9. Juni zwischen 7 und 9 Uhr morgens diese Aktion zu starten habe. Auf insgesamt neun Seiten und vier Seiten Anlagen wurde der Ablauf detailliert vorgegeben. Als Begründung heißt es in dem Schreiben: Im gegenwärtigen Schicksalskampf des Deutschen Volkes ist es erforderlich, nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen Kräfte des Einzelnen wie des gesamten Volkes gesund und widerstandskräftig zu erhalten. Okkulten Lehren, die vorgeben, daß das Tun und Lassen des Menschen von geheimnisvollen magischen Kräften abhängig sei, kann das deutsche Volk nicht weiter preisgegeben werden. Es ist daher gegen diese Lehren und Wissenschaften mit den schärfsten Sofortmaßnahmen vorzugehen. Eine endgültige gesetzliche Regelung ist bereits in Vorbereitung. Koordiniert wurde diese Aktion von der Amtsgruppe „Weltanschauliche Gegner“ des Reichssicherheitshauptamtes unter Leitung von SS-Sturmbannführer Albert Hartl.
Insbesondere waren unter anderem Anthroposophen, Theosophen, Ariosophen, Astrologen, Parapsychologen, Wahrsager, Wunderheiler, Runenleser und Wünschelrutengänger im Fadenkreuz der Aktion. Hierbei war es egal, ob es sich um Einzelpersonen oder ganze Organisationen handelte. Der Sicherheitsdienst versorgte die Eingreiftruppen mit Listen und Berichten zu mehreren hunderten Personen.
Hunderte von Hausdurchsuchungen und Vernehmungen wurden durchgeführt, dutzende Meter Schrifttum beschlagnahmt. So wurden beispielsweise die Anthroposophen Gerhard Hardorp und Franz Dreidax, die Ariosophen Jörg Lanz von Liebenfels und Herbert Reichstein, die Wahrsagerin Caroline von Thun und der Verleger Karl Rohm festgesetzt.
Wieviele Inhaftierte es insgesamt gab, ist nicht genau bekannt, geschätzt werden 300 bis 1000 Personen. Die Strafen reichten von polizeilichen Verwarnungen bis zur Haft in Konzentrationslagern. Die Wikipedia beschreibt einige Schicksale: Emil Bock, der Anthroposoph und Mitbegründer der Christengemeinschaft, wurde am 11. Juni 1941 verhaftet. Er kam zunächst für drei Wochen in das Polizeigefängnis Stuttgart Schmale Straße und wurde dann in das Schutzhaftlager Welzheim überstellt. Am 5. Februar 1942 wurde Bock wieder aus der Haft entlassen. Zwei Tage zuvor war sein Mitstreiter Georg Moritz von Sachsen-Altenburg verhaftet worden. Er kam neuneinhalb Monate in staatspolizeiliche Schutzhaft und musste damit von allen namhaften Anthroposophen die längste Haftstrafe verbüßen. Der Astrologe Hubert Korsch wurde vermutlich im April 1942 im KZ Sachsenhausen per Genickschuss durch die SS ermordet. Sein Kollege Walter A. Koch verbrachte nach seiner Festnahme drei Jahre in Haft, die meiste Zeit davon im KZ Dachau. Der Freimaurer und Theosoph Johannes Maria Verweyen war im Rahmen der Aktion Heß zur Fahndung ausgeschrieben. Am 27. August 1941 verhaftete ihn die Gestapo während einer Vortragsreise in Frankfurt am Main. Er wurde am 8. September 1941 zunächst in das Polizeipräsidium Alexanderplatz überstellt. Ohne gerichtliche Verurteilung wurde er am 23. Mai 1942 in das KZ Sachsenhausen verlegt. Am 7. Februar 1944 kam er dann ins KZ Bergen-Belsen, wo er am 21. März 1945, drei Wochen vor der Befreiung durch britische Truppen, an Fleckfieber starb. Ernst Schulte Strathaus, der das erste Horoskop für den „Englandflug“ von Heß erstellt hatte, wurde als dessen enger Vertrauter bereits am 14. Mai 1941, also vor der eigentlichen Aktion Heß, verhaftet. Zunächst war er elf Monate im Gestapo-Gefängnis in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße 8 in Einzelhaft. Danach war er bis zum 3. März 1943 im KZ Sachsenhausen.
Einige der Inhaftierten wurden 1942 zum Oberkommando der Kriegsmarine überstellt, um in der „Abteilung SP“ mitzuarbeiten, wo sie mit Hilfe von „siderischen Pendel“ feindliche Schiffe und Geleitzüge orten.
Alle Astrologen, Magnetopathen, Anthroposophen etc. verhaftet und ihre gesamte Tätigkeit lahmgelegt. Damit ist diesem Schwindel endgültig ein Ende gemacht. Sonderbarerweise hat nicht ein einziger Hellseher vorausgesehen, dass er verhaftet wurde. Ein schlechtes Berufszeichen. Lautete die Tagebucheintragung von Joseph Goebbels am 13. Juni 1941 in seinem Tagebuch.
Martin Bormann, der nach dem England-Flug von Heß dessen Nachfolge in der Partei-Organisation übernahm und als Reichsminister ohne Geschäftsbereich Mitglied der Regierung und des Ministerrats für die Reichsverteidigung wurde, ging auch nach Beendigung der „Sonderaktion Rudolf Heß“ weiter gegen jegliche Art von Esoterik und Okkultismus vor. Dies ging so weit, dass Zauberkünstler nur noch dann auftreten durften, wenn sie ihre Zaubertricks, wie beispielsweise die zersägte Jungfrau, offenlegten.
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Informationen zu den genannten Personen der NS-Führungsriege
Bormann, Martin: Leiter der NS-Partei-Kanzlei im Range eines Reichsministers
Frank, Hans: Reichsrechtsführer und Generalgouverneur für das besetzte Polen
Goebbels, Joseph: Gauleiter von Berlin und Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda
Heydrich, Reinhard: SS-Obergruppenführer und Leiter des Reichssicherheitshauptamtes
Himmler, Heinrich: Reichsführer SS
Schacht, Hjalmar: Reichswirtschaftsminister, später Reichsbankpräsident
Schirach, Baldur von: Reichsjugendführer und Reichsstatthalter in Wien
Speer, Albert: Generalbauinspektor und Reichsminister für Bewaffnung und Munition
Streicher, Julius: Gauleiter von Franken und Herausgeber des Hetzblattes „Der Stürmer“
Beitragsbild: Wrack der von Heß geflogenen Messerschmitt in Schottland