Sind Corona-Impfungen das „neue Contergan“?

Eine derjenigen Behauptungen der Anti-Impf-Aktivisten, die gegen die Corona-Impfungen wettern, die mich am meisten ärgern ist der Vergleich der Impfstoffe mit dem Schmerzmittel „Contergan“. Nicht alles, was hinkt ist nämlich auch ein Vergleich. Contergan kennen wir natürlich vor allem von dem gleichnamigen Pharma-Skandal, der Anfang der 1960er Jahren die Bundesrepublik erschütterte. Werfen wir einen Blick auf die damaligen Ereignisse.

In den Jahren zwischen 1955 und 1957 war die Firma Chemie Grünenthal GmbH auf der Suche nach einer Möglichkeit, Antibiotika aus Peptiden zu gewinnen sowie neue Schlafmittel zu entwickeln. Dabei fand man den Arzneistoff „N-Phthalyglutaminsäure-imid“, der den Freinamen „Thalidomid“ erhielt.

Grünenthal vermarktete die Substanz vom 1. Oktober 1957 bis November 1961 unter dem Namen Contergan als „erstes bromfreies Schlaf- und Beruhigungsmedikament ohne größere Nebenwirkungen“. Da Contergan unter anderem auch gegen die typische morgendliche Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase half, wurde es Ende der 1950er-Jahre gezielt als das Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen und beworben. Im Hinblick auf Nebenwirkungen galt es als besonders sicher, denn als bromfreies Schlafmittel sollten Nebenwirkungen wie Verwirrtheitszustände, Delirien und Stottern ausbleiben. Zudem war es deutlich weniger gefährlich als die Barbiturate, die häufig bei Suiziden benutzt wurden. Thalidomid war auch in den Medikamenten Algosediv, Grippex und, als Bestandteil von Grünenthal geliefert, in dem Hustenmedikament Peracon der Kali Chemie enthalten. [Quelle]

Die Werbung der Firma Grünenthal bezeichnete Contergan als „allgemein ungefährlich“ und nahm auch die Einnahme durch Schwangere nicht aus, obschon es keine Prüfung gab, ob Schwangere oder Föten durch die Einnahme beeinträchtigt wurden. Grünenthal verkaufte Contergan selbst dann noch weiter, als ihr gleichzeitig von einem deutschen und einem australischen Arzt berichtet wurde, daß Contergan schwerste Missbildungen bei ungeborenen Kindern verursachen würde. Einer Beantragung der Rezeptpflicht für Contergan hat sie sich ebenso stets widersetzt wie der von vielen Experten geforderten Rücknahme aus dem Handel. […] Erst nachdem die Öffentlichkeit durch einen Zeitungsartikel in der „Welt am Sonntag“ vom 26. November 1961 unterrichtet wurde, zog Grünenthal Contergan aus dem Handel. [Quelle]

Über 10.000 Kinder wurden weltweit mit schwersten Mißbildungen geboren und tausende Menschen erlitten durch Thalidomid schwerste Nervenschäden.

Contergan und die daraus entstandenen Mißbildungen werden nun von den Anti-Impf-Aktivisten dafür Instumentalisiert, die Corona-Schutzimpfungen zu diskreditieren und das, obwohl die Ausgangslagen damals und heute vollkommen anders waren.

Bis zum Jahr 1961 gab es weder ein Bundesministerium für Gesundheit, noch ein spezielles Arzneimittelgesetz. Die verschiedenen Vorschriften zu Arzneimittelherstellung und Vertrieb waren in zahlreichen Gesetzen und Verordnungen verteilt. Und tatsächlich nahm das Gesundheitsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen derartige Aufgaben für die Bundesrepublik wahr. Ein Zustand, der erst durch die „Römischen Verträge“, die auch die Angleichung der europäischen Rechtsvorschriften forderten, wurde dieser Mißstand beendet. Deutschland war übrigens das einzige Land der EWG (Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft), die nicht über ein Arzneimittelgesetz und ein Gesundheitsministerium verfügte. Erste Gesundheitsministerin wurde übrigens Elisabeth Schwarzhaupt von der CDU.

Die Firma Grünenthal musste weder Wirksamkeit, noch die Ungefährlichkeit ihres Mittels nachweisen, es gab keine klinischen Erprobungen und die Tierversuche wurden lediglich an Nagetieren, „nicht aber an mit Menschen verwandten Säugern“ durchgeführt. Die Versuchsprotokolle wurden – im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der übrigen pharmazeutischen Industrie – spätestens im Jahre 1959 vernichtet. [Quelle]

Aber auch das Arzneimittelgesetz (AMG) des Jahres 1961 war nicht das Gelbe vom Ei. So fehlte noch immer eine Verpflichtung der Prüfung von Wirksamkeit und Sicherheit der Arzneimittel. Lediglich wurde eine einfache Registrierung eingeführt. Die Medikamente sollten nicht vom Bundesgesundheitsamt geprüft werden, sondern bei der Verwendung von Stoffen, deren Wirksamkeit nicht „allgemein bekannt“ sei, sollte ein Bericht über die Art und Ausmaße festgestellter Nebenwirkungen beigelegt werden. Dadurch sollten Verzögerungen bei der Registrierung vermieden werden, um deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu halten. Auch hinsichtlich der Wirksamkeit sollte die Verantwortung beim Hersteller liegen. Es wurden nur „Ärztliche Prüfungen“, nicht aber Klinische Prüfungen für neue Arzneimittel verlangt. 1964 wurde der § 21 um zwei Absätze 1a und 1b ergänzt, die die Prüfung der Arzneimittel durch vorklinische und klinische Studien vorschrieb. Die Hersteller mussten ab dann eine bedeutsame schriftliche Versicherung liefern, dass die Arznei entsprechend dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ausreichend und sorgfältig geprüft worden sei. [Quelle]

Erst durch die umfangreiche Novellierung des Arzneimittelgesetzes, die 1976 in Kraft trat, wurden diese Mißstände abgeschafft. Heute sind das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und das Paul-Ehrlich-Institut für die Zulassung von Arzneimitteln zuständig. Geregelt wird sie im vierten Abschnitt des Arzneimittelgesetzes (§§21 bis 37).

Gegliedert ist der Prozess in zwei Phasen. In Phase 1 werden die Unterlagen des antragstellenden Pharmaunternehmens erstmalig geprüft und – sollten Mängel festgestellt werden – ein Mängelbericht erstellt. In Phase 2 werden die Antworten des Antragsstellers bis zum abschließenden Bescheid geprüft.

In Europa werden die COVID-19-Impfstoffe im zentralisierten Zulassungsverfahren bewertet, welches die Europäische Arzneimittelagentur EMA (European Medicines Agency) koordiniert. Der zuständige Ausschuss für Humanarzneimittel (Committee for Medicinal Products for Human Use, CHMP) bei der EMA, gibt im Falle einer positiven Bewertung eine Stellungnahme mit Zulassungsempfehlung an die Europäische Kommission ab. Die Europäische Kommission entscheidet über die Zulassung eines Impfstoffprodukts in Europa und damit auch in Deutschland. Nach einer Zulassung kann der Impfstoff in den EU-Mitgliedstaaten inklusive der EWR-Staaten vermarktet und allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung gestellt werden. [Quelle]

Dies ist aber nur die formale, also verwaltungstechnische Prüfung. Die klinische Überprüfung läuft im Vorfeld und umfasst drei bzw. vier Phasen. In Phase 1 wird das neue Arzneimittel erstmals am Menschen eingesetzt, wobei es sich um gesunde Probanden handelt. Hier geht es hauptsächlich um die Verträglichkeit und darum, herauszufinden wie sich der Stoff im Organismus verteilt, wie er um- und abgebaut und letztendlich ausgeschieden wird. Phase 2 erforscht die Wirksamkeit, Wirkungs-Beziehungen und die Verträglichkeit des neuen Mittels. In Phase 3 geht es um die Erprobung in einer größeren Gruppe in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit. Nach dem erfolgreichen Abschluss von Phase 3 erfolgt nach Prüfung die Zulassung. Klinische Prüfungen nach der Zulassung werden als Phase 4 bezeichnet. Dabei geht es um die Wirksamkeit und Sicherheit unter Praxisbedingungen, die Erkennung seltener unerwünschter Wirkungen und die Optimierung der Anwendung.

Das sind wirklich dicke Bretter, die vor einer Zulassung gebohrt werden müssen und so verwundert es nicht, dass dieser ganze Aufwand teilweise mehrere Jahre dauert. Wie konnten dann die Corona-Impfstoffe in so kurzer Zeit zugelassen werden?

Durch die besonderen Herausforderungen der Corona-Pandemie gab es zwischen den Behörden, den Expertinnen und Experten der Forschung und der Politik eine engere Zusammenarbeit, durch die die jeweiligen Prüfprozesse effizienter gestaltet werden, wobei die Sorgfalt nicht litt. Die Verfahrensabläufe wurden optimiert und so ein Zeitgewinn bei der Entwicklung erreicht werden.

Das Paul-Ehrlich-Institut beschreibt detailliert die vier Faktoren, die hier griffen:

  1. Zeitgewinn durch Wissenschaftliche Beratung:
    Impfstoffentwickler profitieren von frühen und kontinuierlichen wissenschaftlichregulatorischen Beratungen durch die Arzneimittelbehörden. Der sogenannte Scientific Advice zunächst auf nationaler, bei fortgeschrittener Entwicklung auf europäischer Ebene, bereitet die pharmazeutischen Unternehmer auf die bei der Entwicklung zu beachtenden regulatorischen Vorgaben und die inhaltlichen Anforderungen der Antragstellung zur Genehmigung klinischer Prüfungen, zur Zulassung und zur Chargenfreigabe vor und er ermöglicht einen reibungslosen Einreichungsprozess ohne zeitliche Verzögerungen.
  2. Zeitgewinn durch Rolling Review:
    Ein Rolling-Review-Verfahren für die Zulassung erlaubt dem Impfstoff-Hersteller, frühzeitig – noch während die klinische Phase-3-Prüfung läuft – einzelne Datenpakete zur Vorab-Bewertung für die Zulassung vorzulegen und Fragen, die sich während der regulatorischen Antragsbewertung stellen, zu beantworten. So können Teile des Antragsdossiers bereits vor der eigentlichen Antragstellung geprüft, verbessert und bewertet werden. Wenn alle erforderlichen Unterlagen für die Zulassung eingereicht wurden und damit der Zulassungsantrag gestellt wird, nimmt die Bearbeitung deutlich weniger Zeit in Anspruch. Der Bewertungsprozess startet somit deutlich früher. Das Rolling-Review-Verfahren geht dem Zulassungsantrag mit der Einreichung der vollständigen Datenpakete voraus. Auch für die Genehmigung klinischer Prüfungen hat das Paul-Ehrlich-Institut das Rolling-Review-Verfahren eingesetzt.
  3. Zeitgewinn durch Kombination von klinischen Prüfungsphasen:
    Klinische Prüfungen, die häufig nacheinander stattfinden, werden kombiniert, beispielsweise Phase 1 mit Phase 2 oder Phase 2 mit Phase 3. So können organisatorische Prozesse, beispielsweise die Rekrutierung der Probandinnen und Probanden für zwei Phasen der klinischen Prüfung, in einem Vorgang gebündelt werden. Zudem können die notwendigen Untersuchungen gebündelt werden.
  4. Zeitgewinn durch Forschungswissen zu Coronaviren:
    Bei der Entwicklung eines COVID-19-Impfstoffs konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Forschungsvorarbeiten zu anderen Coronaviren und entsprechenden Impfstoffentwicklungen, beispielsweise zu SARS-Coronavirus von 2003 und MERS-Coronaviren, aufbauen. Diese dem SARS-CoV-2 ähnlichen Coronaviren waren Auslöser der SARS-Epidemie 2002/2003 und der MERS (Middle-East-Respiratory-Syndrom)-Epidemie in 2012.
    [Quelle]

Man sieht also, dass der Zeitgewinn bei der Corona-Schutzimpfung auf eine enge Verzahnung der Beteiligten, zeitliche Optimierungen und eine vorbildliche Nutzung von wissenschaftlichen Ressourcen zurückzuführen ist und keine Abstriche bei Sorgfalt und Sicherheit in Kauf genommen werden mussten, wie die Anti-Impf-Aktivisten gerne behaupten.


Beitragsbild: Von unbekannt – Bild aus dem Artikel: Henryk M. Broder: Der Kampf der Contergan-Firma gegen die Opfer. In: Die Welt. 15. August 2012; nachbearbeitet, PD-Schöpfungshöhe, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=7586672

2 Gedanken zu “Sind Corona-Impfungen das „neue Contergan“?

  1. Die Kolleginnen und Kollegen des Zulassungsteams sitzen nur einen Bürocluster weit weg von mir. Daher konstatiere ich: Sehr gute Erklärung zum Zulassungsverfahren! Das hätten sie nicht besser gekonnt. 👍

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