Immer dieser Udo… Da hat er doch tatsächlich angeschickt, die Wissenschaft aufzumischen und teilweise ist es ihm auch gelungen.
Wie? Wer Udo ist? Nun, Udo ist heute ein Skelett. Noch nicht mal mehr ein komplettes Skelett. Genauer gesagt ist Udo ein Fragment aus 21 erhaltenen Knochen, die 11,62 Millionen Jahre (plus/minus ein paar zehntausend Jahre…) alt sind. Als er noch gelebt hat, war Udo ein Menschenaffe, der etwa einen Meter groß und um die 30kg schwer war. Um ihn herum wurden auch Fragmente von Weibchen und Jungtieren seiner Gattung mit dem schönen Namen Danuvius und dem Artnamen guggenmosi (nach Siegulf Guggenmos, einem engagierten Allgäuer Hobbyforscher) gefunden. Also Danuvius guggenmos, genannt Udo. Warum Udo? Weil die ersten Funde am 17. Mai 2016, dem 70. Geburtstag von Udo Lindenberg gemacht wurden. Entdeckt wurde das Skelett in der Tongrube „Hammerschmiede“ bei Pforzen durch Grabungen der Universität Tübingen, die von Frau Prof. Dr. Madelaine Böhme geleitet wurden.
Seit die Studie zu Udos Entdeckung, die am 6. November 2019 in der Fachzeitschrift Nature erschien, wird nun in der Fachwelt diskutiert. Was übrigens ein ganz normaler Vorgang ist und ja eine evidente Voraussetzung für den Erkenntnisfortschritt bildet. Der Diskurs wäre ohne den Vergleich unterschiedlicher Meinungen oder Theorien sinnlos. Das ist dann auch kein Streit, wie man ihm vom Stammtisch her kennt, auch wenn die Presse das immer wieder gerne suggeriert (so auch in diesem Fall).
Aber gut, worin liegt nun der Gegenstand der Diskussion?
Unter Fachleuten war und ist es Konsensus, dass im Zeitraum von ca. 15 Mio. bis 7 Mio. Jahren vor unserer Zeit die Menschenaffen überall in Afrika, Asien und Europa verbreitet und weitaus artenreicher als heute waren. Danach verschwanden sie (vor allem durch Klimaveränderungen bedingt) vollständig aus Europa und bis auf die Vorfahren der Orang-Utans auch aus Asien. Es blieben die Populationen in Afrika, von deren Nachkommenschaft letztendlich die Gorillas, die Schimpansen (inklusive Bonobos) und die Menschen bis heute fortbestehen. Nach der endgültigen Trennung der menschlichen Vorfahren von den Schimpansen vor vermutlich rund 6 Mio. Jahren gab es mindestens zwei Ausbreitungsbewegungen der Gattung Homo von Afrika nach Eurasien. Zunächst war es der Homo erectus vor rund 2 Mio. Jahren, später der Homo sapiens, welcher vor rund 300.000 Jahren in Afrika evolvierte. Vor ca. 200.000 Jahren begann dessen Ausbreitung nach Eurasien, welche in großem Umfang aber erst viel später (vor etwa 70.000-50.000 Jahren) stattfand. (1)
Dies bezeichnet man als die „Out of Africa-Hypothese“, was bereits von Charles Darwin 1871 in seinem Buch „The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex“ vertreten wurde.
Als nun Madeleine Böhm und ihre Mitautor*innen Udo in einem umfangreichen Artikel in der Zeitschrift „Nature“ erstmalig beschrieben, gingen sie davon aus, dass der kleine, possierliche Udo aufrecht gehen konnte. Dies begründeten sie aus den Knochenfragmenten, die auf eine S-förmige Wirbelsäule, eine senkrechte Schienbeinstellung hinwiesen, genauso wie die Beschaffenheit von Knie, Lendenwirbeln, Kreuzbändern oder dem Brustkorb.
Damit wäre Udo der erste aufrecht gehende Hominide und das gut sechs Millionen Jahre früher als bisher angenommen! Und das tausende von Kilometern nördlich der bisher angenommenen „Wiege der Menschheit“. Nein, nicht in einer afrikanischen Savanne, sondern im europäischen Allgäu sollte sich Udo erstmals als „Frühaufsteher“ betätigt haben.
„Sensation! Sensation!“ riefen die Medien und alle Bürgermeister*innen und Fremdenverkehrsamtsleiter*innen nahmen erst ihre Beruhigungspillen und bestellten dann den Champagner.
Das war etwas voreilig. Also die Champagner-Bestellung, die Beruhigungspillen waren sicher angebracht. Jedenfalls ab dem Moment, als sich der Anthropologe Scott Williams von der New York University gemeinsam mit anderen Forscher*innen zu Wort meldete: Böhme habe keinerlei Beweise für den aufrechten Gang eines Hominiden vor 11,6 Millionen Jahren präsentiert. Dass aus der Zunft Gegenstimmen laut würden, war zu erwarten. Schließlich passte Böhmes Interpretation hinten und vorne nicht zur Lehrmeinung: In der Fachwelt galt der Zweibeinergang von Hominiden als ein Merkmal, das erst vor drei bis sieben Millionen Jahren von Exemplaren der Spezies Graecopithecus, Sahelanthropus oder Australopithecus entwickelt worden war. Böhmes Udo passte da nicht rein. Er war zu früh auf der Welt, um in den Club der Aufrechten aufgenommen zu werden.
Genauso widersprach der Fundort der Vorgeschichte des Menschen, wie sie jahrzehntelang erzählt worden war. Das Allgäu liegt zu weit nördlich. Die etablierte Theorie „Out of Africa“ besagt, dass erst vor rund zwei Millionen Jahren menschenartige Zweibeiner die Wiege der Menschheit verließen und als Homo erectus eurasische Gefilde eroberten.
Böhmes Interpretation von Udos Knochen hält der Kritiker Williams daher für abenteuerlich. Die Behauptung, Danuvius guggenmosi sei mit S-förmiger Wirbelsäule umhermarschiert, sei schlichtweg haltlos – zumal die Forscherin weder mit mittleren Brustwirbeln noch einer Lendenwirbelsäule aufwarten könne. Böhme hatte gerade mal einen Brustwirbel gefunden. Als „derzeit unbegründet“ kritisiert Williams auch die Versuche, Udos Hüftmechanik, die Beschaffenheit des Knies und die Lage des Schienbeins als Indiz für den aufrechten Gang zu interpretieren. (2)
Ob Udo sich nun dauerhaft sicher auf zwei Beinen, eher auf vier Beinen und nur gelegentlich auf zweien oder mal so, mal so fortbewegt haben wird, das kann man anhand der Knochenfunde nicht wirklich nachvollziehen. Die Anlagen für den aufrechten Gang, die hatte er auf jeden Fall und das ist schon eine interessante Sache. Die Bezeichnung des „Missing Link“, die ihm angeheftet wurde, hat sich Udo damit aber eher nicht verdient.
Die Metapher vom missing link ist im Übrigen generell unsinnig. Sie zeichnet ein falsches Bild von den komplexen Abläufen der Evolution, die kaum je linear abläuft, sondern wie ein Geflecht ineinander verwobener Fäden aussieht. In der heißen Phase der Menschwerdung verwandelten sich Millionen Quadratkilometer Regenwald Afrikas über Millionen Jahre hinweg in Savanne. Neue körperliche Merkmale wurden für die zuvor auf Bäumen lebenden Primaten nützlich.
Es kam allerorten zu massenhafter Evolution, Co-Evolution und Parallelentwicklung. Menschenaffen, Halbaffen, Australopithecinen, Hominine und Hominide lebten miteinander, nebeneinander und nacheinander. Irgendwann wurde ein leistungsfähiges Hirn zum Vorteil. Die Wesen, die davon profitierten, machten Feuer, bauten Speere, besiedelten Höhlen, bekämpften sich gegenseitig und erfanden schließlich das Smartphone.
Doch der genaue Weg dorthin, so ehrlich sollten Paläontologen sein, ist noch längst nicht geklärt. Das liegt auch an der insgesamt spärlichen Menge an Fundstücken, aus denen man das riesige Puzzle zusammensetzen könnte. (3)
Von einem können wir damit aber endgültig Abschied nehmen, nämlich von der Vorstellung einer geradlinigen Evolution.
Was ist das bisherige Fazit? Udo ist ein interessantes Fundstück, so wie einige andere vor ihm, er ist aber weder unser ehrwürdiger Ur-ur-ur-Großvater noch der Grund dafür, die bisherige wissenschaftliche Erkenntnis komplett umzuschmeißen oder die Geschichte der Menschheit neu schreiben zu müssen. Oder wie Patrick Illinger 2019 in der Süddeutschen Zeitung schrieb: Das Getrommel des Paläo-Pop nervt. (3)
(1) Hopp, Dominic: Der Fall Danuvius guggenmosi. https://www.ag-evolutionsbiologie.net/print/Danuvius-guggenmosi.html
(2) Willmann, Urs: Ein neuer Forscherstreit über den aufrechten Gang. https://www.zeit.de/2020/41/menschenaffe-udo-aufrechter-gang-forschung-streit
(3) Illinger, Patrick: Menschenaffe Udo ist nicht Ur-Opa. www.sz.de/1.4673554
Beitragsbild von M. Garde – Self work (Original by: José-Manuel Benitos), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2165296