Tjaja, der Gottesmord. Oder Christusmord. Oder Heilandsmord. Oder wie immer man das wohl älteste Stereotyp des historischen Antijudaismus nennen möchte. Ausgedacht hat sich das Ganze der Bischof Melito von Sardes, der um das Jahr 160 predigte: Welch schlimmes Unrecht, Israel, hast du getan? Du hast den, der dich ehrte, geschändet […] Du bereitetest ihm spitze Nägel und falsche Zeugen und Fesseln und Geißeln und Essig und Galle und das Schwert und die Trübsal wie für einen Raubmörder […] Getötet hast du den Herrn inmitten Jerusalems! Höret es, alle Geschlechter der Völker und sehet: Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalem in der Stadt des Gesetzes, der Hebräer, der Propheten, in der Stadt, die für gerecht galt! […] Der die Erde aufhing, ist aufgehängt worden; der die Himmelfestmachte, ist festgemacht worden; der das All befestigte, ist am Holz befestigt worden […] der Gott ist getötet worden; der König Israels ist beseitigt worden von Israels Hand. Oh, welch unerhörter Mord! Oh, welch unerhörtes Unrecht!
Aber fangen wir am Anfang an: Die Kreuzigung Jesu ist ein zentrales Ereignis im christlichen Glauben und wird in den Evangelien des Neuen Testaments des christlichen Bibelkanons beschrieben. Die genauen Details können in den Evangelien leicht variieren, aber hier ist eine allgemeine Beschreibung:
Verurteilung durch Pilatus – Jesus wurde von den religiösen Führern an den römischen Statthalter Pontius Pilatus überstellt. Pilatus fand keine Schuld an Jesus, aber auf Druck der Menge und möglicher politischer Unruhen stimmte er schließlich zu, Jesus zu kreuzigen.
Misshandlung und Verspottung – Vor der Kreuzigung wurde Jesus von den römischen Soldaten misshandelt. Er wurde mit einem Dornenkranz gekrönt, mit einem Purpurmantel bekleidet und verspottet.
Der Kreuzweg – Nach der Verurteilung musste Jesus sein Kreuz selbst tragen. Der Weg, den er zurücklegte, wird als „Via Dolorosa“ (der schmerzhafte Weg) bezeichnet.
Die Kreuzigung – Am Ort der Hinrichtung, Golgota genannt, wurde Jesus ans Kreuz genagelt oder gebunden. Seine Hände und Füße wurden an das Holz des Kreuzes befestigt. Die Evangelien berichten, dass über dem Kopf Jesu ein Schild mit der Aufschrift „INRI“, als „Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum – Jesus von Nazareth, der König der Juden“ angebracht wurde.
Letzte Worte – Während seiner Zeit am Kreuz sprach Jesus verschiedene Worte, darunter das Gebet für diejenigen, die ihn kreuzigten. Die letzten Worte Jesu variieren leicht in den verschiedenen Evangelien.
Tod und Wunder – Nach einiger Zeit am Kreuz starb Jesus. In den Evangelien wird beschrieben, dass es Finsternis gab, als er starb, und dass der Vorhang im Tempel zerriss.
Bestattung – Jesus wurde gemäß den Evangelien in ein von Joseph von Arimathäa zur Verfügung gestelltes Grab gelegt. Der Tod und die Auferstehung Jesu sind zentrale Elemente des christlichen Glaubens.
Diese Darstellung basiert auf den biblischen Berichten in den Evangelien, und verschiedene christliche Traditionen können unterschiedliche Schwerpunkte auf bestimmte Aspekte der Kreuzigung legen.
Die Frage, ob die Juden für die Kreuzigung Christi verantwortlich waren, ist historisch und theologisch umstritten. Die unterschiedlichen Perspektiven auf dieses Thema spiegeln die Vielfalt der Interpretationen von biblischen Texten und historischen Ereignissen wider. Die traditionelle christliche Lehre betont, dass Jesus von den römischen Behörden gekreuzigt wurde, aber einige Bibelstellen können missverständlich interpretiert werden und haben in der Geschichte zu falschen Anschuldigungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung geführt. Die Evangelien berichten, dass Pilatus, der römische Statthalter, Jesus zum Tod am Kreuz verurteilte.
Gemäß den Evangelien war es eine Gruppe von jüdischen religiösen Autoritäten, darunter Hohepriester, Schriftgelehrte und Älteste, die Jesus verhafteten, vor Gericht brachten und ihn schließlich vor Pilatus anklagten. In den Evangelien wird berichtet, dass diese religiösen Führer Jesus der Blasphemie beschuldigten, indem sie ihn als einen aufrührerischen Einfluss darstellten. Allerdings spielten die Römer, insbesondere der römische Statthalter Pontius Pilatus, eine zentrale Rolle bei der Verurteilung und Kreuzigung von Jesus Christus. Pilatus war der römische Gouverneur von Judäa zurzeit von Jesus.
Nach den Evangelien wurde Jesus von den jüdischen Hohepriestern und Ältesten an Pilatus überstellt, um über sein Schicksal zu entscheiden. Pilatus befragte Jesus und fand nach seinen eigenen Aussagen keine Schuld an ihm. Dennoch gab er nach dem Drängen der Menge nach und verurteilte Jesus zum Tod durch Kreuzigung. Die Entscheidung von Pilatus, die Kreuzigung zuzulassen, war demnach das Ergebnis politischer Überlegungen und des Wunsches, einen Aufstand zu verhindern.
Die Evangelien betonen, dass Pilatus versuchte, sich von der Verantwortung zu distanzieren und Jesus freizulassen, indem er seine Unschuld betonte und ihn geißeln ließ. Letztendlich jedoch willigte er aufgrund des Drucks der Menge und möglicher politischer Unruhen ein, Jesus hinrichten zu lassen.
In der christlichen Tradition wird Pontius Pilatus oft als Symbol für moralische Schwäche und den Mangel an Gerechtigkeit betrachtet. Die Rolle der Römer, insbesondere Pilatus, in der Kreuzigungsgeschichte betont die Spannung zwischen der römischen Autorität und den religiösen Führern in Judäa zur fraglichen Zeit.
Moderne christliche Theologie und viele christliche Denominationen lehnen die Idee ab, die Juden kollektiv für die Kreuzigung verantwortlich zu machen. So ist unter anderem die Beteiligung der jüdischen Hohepriester an den Ereignissen um die Kreuzigung Jesu ein komplexes und umstrittenes Thema, das im Laufe der Geschichte zu Missverständnissen und falschen Anschuldigungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung geführt hat.
Die römischen Behörden und ihre Entscheidungen werden als entscheidend für das Schicksal Jesu angesehen. Antisemitische Interpretationen, die die Schuld auf die gesamte jüdische Bevölkerung legen, sind historisch falsch und inakzeptabel.
In den letzten Jahrzehnten haben viele christliche Gemeinschaften Bemühungen unternommen, um eine versöhnliche Haltung gegenüber dem Judentum zu fördern und antisemitische Vorurteile zu überwinden. Es ist wichtig, historische Ereignisse mit Genauigkeit zu betrachten und gleichzeitig Respekt für die religiösen Überzeugungen anderer zu zeigen.
Nun kommen wir auf unseren Bischof Melito von Sardes zurück, der in seiner Predigt ja als erster vom „Gottesmord“ erzählte. Hintergrund der Predigt war der frühchristliche Streit um das Osterdatum: Es fiel für Melito noch mit dem14. Nisan, dem Hauptfesttag des jüdischen Passah, zusammen. Dies machte es für ihn umso notwendiger, die Überlegenheit der christlichen gegenüber der jüdischen Heilslehre herauszustellen. Melito überhöhte Jesu Tod zum Mord an Gott, um die religiöse „Enterbung“ des Judentums als biblisch erwähltes Volk Gottes durch die Kirche zu begründen. Zudem bahnte sich im 2. Jahrhundert der innerchristliche Streit um die zwei Naturen Jesu Christi schon an: Für die orthodoxe Linie war der Mensch Jesus unmittelbar mit dem der Welt zugewandten Wesen Gottes identisch, so dass alles, was Menschen ihm antaten, gegen Gott selbstgerichtet war. Auch für Theologen, die diese Identität Jesu mit Gott ablehnten, war sein Sterben menschliche Sünde gegen Gott, die aber Gottes unsterbliches Wesen nicht angreifen könne. Wie den Judenerschien ihnen die Rede vom „Mord an Gott“ daher als Gotteslästerung. Erst beim Ersten Konzil von Nicäa (325) wurde dieser Streit in der Kirche zugunsten der orthodoxen Auffassung entschieden
In der Folge wurde dieses Narrativ immer wieder erneuert und auch ausgebaut. Beispielsweise von Tertullian, der Didaskalia Apostolorum, Ephraem der Syrer, sie alle brandmarkten die Juden als Christusmörder und Eusebius von Caesarea sah sogar die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer und die Diaspora als Strafe für den angeblichen Mord. Als dann das Christentum im Jahr 380 römische Staatsreligion wurde, gehörte diese Erzählung zu den festen Stereotypen des christlichen Antijudaismus.
Im Mittelalter war dann das Bild vom Christus mordenden Juden auch in Europa tief im christlichen Volksglauben verankert und wurde von beispielsweise von Erzbischof Agobard von Lyon, Erzbischof Hrabanus Maurus oder Petrus Damiani immer weiter angefacht, so dass es während des ersten Kreuzzuges auch immer wieder Pogrome und Massaker unter den jüdischen Gemeinden entlang der Marschroute gab.
Der Reformator Martin Luther war zwar – um es euphemistisch auszudrücken – kein großer Freund der Juden, war aber, was das Narrativ des Gottesmordes anging, nicht dogmatisch und entschärfte noch die Karfreitagsliturgie, als er allerdings von rabbinischer Seite für seine Bibelexegese stark kritisiert wurde und auch noch seine Hoffnung auf die Missionierung von Juden scheiterte, wendete sich dies um. Es folgten dann Schriften wie „Von den Jüden und ihren Lügen“, in denen er wirklich jedes noch so platte antijüdische Stereotyp nicht nur verbreitete, sondern auch noch verschärfte. In Bezug auf die Kreuzigung Jesu behauptete er, diese hätten ihn nur aus Hass und Neid verdammt und getötet.
Erst als im Laufe des 19. Jahrhunderts der rassische, also pseudowissenschaftliche, Antisemitismus aufkam, nahm der Vorwurf des Gottesmordes ab, wurde aber von christlichen Autoren weiter bedient. So vom Jesuiten Theodor Granderath, der die Diaspora ebenfalls mit dem Gottesmord erklärte: Eine Erklärung der Thatsache der ewigen Heimatlosigkeit der Juden […] ist einzig und alleinjene Erklärung, welche sich dem Christen wie von selbst bietet: Der allmächtige Gott und Herr der Völker […] hat dieses Volk, welches seinem Berufe nicht entsprochen und den Messias erworfen und gekreuzigt, zur Strafe zur ewigen Heimatlosigkeit verurtheilt.
Ähnlich gingen auch die Nationalsozialisten vor. Sie konzentrierten sich zwar hauptsächlich auf den rassischen Antisemitismus, bedienten aber auch die religiös-antijudaistischen Narrative. So stilisierte Julius Streicher Adolf Hitler1923 nach dem gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch zum von Juden gekreuzigten und wiederauferstehenden Messias des deutschen Volkes: „Der Retter kommt nicht von dort her, wo man mit dem Worte ,Christentum‘ den grössten Volksbetrug begeht, auch nicht von dort her, wo deutsche Menschen im Dienst der Golgathamörder stehen. Ich könnte ihnen den Namen des Mannes nennen, der Deutschlandretten wird.“ Vor und nach 1933 deutete er das Gottesmordmotiv in zahlreichen Artikeln des Hetzblattes Der Stürmer zum „Rassenmord“ durch „Rassenschande“ um.
Besonders die „Deutschen Christen“ bedienten das Gottesmord-Narrativ gerne und überhöhten es auch. Trotzdem verwundert es, dass sich die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD), in der ja noch zahlreiche Anhänger der Deutschen Christen aktiv waren, auch nach dem Ende des Dritten Reiches und trotz des Holocausts sehr schwer mit dem Thema tat. Unter dem Eindruck einer erneuten Reihe antisemitischer Angriffe erklärte die Synode von Weißensee 1950 dagegen: „Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.“ Damit widerrief eine offizielle kirchliche Stellungnahme der EKD erstmals die aus dem Gottesmord abgeleitete Fluchtheorie. Der Folgepassus zeigte die Schwierigkeiten der Beteiligten, eine kirchliche Mitschuld zu benennen: „Wir bekennen uns zu der Schuld der Deutschen, die vor dem Gott der Barmherzigkeit durch den Massenmord an den Juden handelnd oder schweigend schuldig geworden sind.“ Auch dies ging einigen Kirchenführern auf der
Synode zu weit.
Auch die römisch-katholische Kirche tat sich schwer mit der Aufgabe der Gottesmord-Erzählung, bis 1965 während des Concilium Oecumenicum Vaticanum II die Erklärung „Nostra Aetate“ (Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen) verabschiedet wurde. Hierin nimmt das Verhältnis zur jüdischen Religion im vierten Abschnitt den größten Platz ein und ist das Herzstück der Erklärung.
Darin heißt es schon zu Beginn: Ecclesia enim Christi agnoscit fidei et electionis suae initia iam apud Patriarchas, Moysen et Prophetas, iuxta salutare Dei mysterium, inveniri. Confitetur omnes Christifideles, Abrahae filios secundum fidem, in eiusdem Patriarchae vocatione includi et salutem Ecclesiae in populi electi exitu de terra servitutis mystice praesignari. Quare nequit Ecclesia oblivisci se per populum illum, quocum Deus ex ineffabili misericordia sua Antiquum Foedus inire dignatus est, Revelationem Veteris Testamenti accepisse et nutriri radice bonae olivae, in quam inserti sunt rami oleastri Gentium. Credit enim Ecclesia Christum, Pacem nostram, per crucem Iudaeos et Gentes reconciliasse et utraque in Semetipso fecisse unum. Semper quoque prae oculis habet Ecclesia verba Apostoli Pauli de cognatis eius, „quorum adoptio est filiorum et gloria et testamentum et legislatio et obsequium et promissa, quorum patres et ex quibus est Christus secundum carnem“ (Rom. 9, 4–5), filius Mariae Virginis. Recordatur etiam ex populo iudaico natos esse Apostolos, Ecclesiae fundamenta et columnas, atque plurimos illos primos discipulos, qui Evangelium Christi mundo annuntiaverunt.
Sie bekennt, daß alle Christgläubigen als Söhne Abrahams dem Glauben nach in der Berufung dieses Patriarchen eingeschlossen sind und daß in dem Auszug des erwählten Volkes aus dem Lande der Knechtschaft das Heil der Kirche geheimnisvoll vorgebildet ist. Deshalb kann die Kirche auch nicht vergessen, daß sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schößlinge eingepfropft sind. Denn die Kirche glaubt, daß Christus, unser Friede, Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und beide in sich vereinigt hat. Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels Paulus vor Augen, der von seinen Stammverwandten sagt, daß „ihnen die Annahme an Sohnes Statt und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gehören wie auch die Väter und daß aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt“ (Röm 9,4-5), der Sohn der Jungfrau Maria Auch hält sie sich gegenwärtig, daß aus dem jüdischen Volk die Apostel stammen, die Grundfesten und Säulen der Kirche, sowie die meisten jener ersten Jünger, die das Evangelium Christi der Welt verkündet haben.
Und weiter: Etsi auctoritates Iudaeorum cum suis asseclis mortem Christi urserunt, tamen ea quae in passione Eius perpetrata sunt nec omnibus indistincte Iuddaeis tunc viventibus, nec Iudaeis hodiernis imputari possunt. Licet autem Ecclesia sit novus populus Dei, Iudaei tamen neque ut a Deo reprobati neque ut maledicti exhibeantur, quasi hoc ex Sacris Litteris sequatur. Ideo curent omnes ne in catechesi et in verbi Dei praedicatione habenda quidquam doceant, quod cum veritate evangelica et spiritu Christi non congruat.
Praeterea, Ecclesia, quae omnes persecutiones in quosvis homines reprobat, memor communis cum Iudaeis patrimonii, nec rationibus politicis sed religiosa caritate evangelica impulsa, odia, persecutiones, antisemitismi manifestationes, quovis tempore et a quibusvis in Iudaeos habita, deplorat.
Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen.
Gewiß ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern. Darum sollen alle dafür Sorge tragen, daß niemand in der Katechese oder bei der Predigt des Gotteswortes etwas lehre, das mit der evangelischen Wahrheit und dem Geiste Christi nicht im Einklang steht.
Allerdings blieb in der Volksfrömmigkeit das Narrativ des Gottesmordes trotz allem noch verankert, vor allem auch, weil besonders konservative und traditionalistische Pfarreien und Bistümer Nostra Aetate ablehnten. Die Piusbruderschaft beispielsweise lehnt die Erklärung – wie alle Beschlüsse von Vaticanum II – vehement ab.
Der Katholische Erwachsenen-Katechismus von 1997 weist die Gottesmordlehre mit Bezug auf Nostra Aetate zurück: „Die Juden sind für den Tod Jesu nicht kollektiv verantwortlich. […] Berücksichtigt man, wie geschichtlich verwickelt der Prozeß Jesu nach den Berichten der Evangelien ist und wie auch die persönliche Schuld der am Prozeß Hauptbeteiligten (von Judas, dem Hohen Rat, von Pilatus) – die Gott allein kennt – sein mag, so darf man nicht die Gesamtheit der Juden von Jerusalem dafür verantwortlich machen – trotz des Schreiens einer manipulierten Menge [Mk 15,11.] und ungeachtet der allgemeinen Vorwürfe in den nach Pfingsten erfolgenden Aufrufen zur Bekehrung [Apg 2, 23. 36; 3,13–14; 4,10; 5,30; 7,52; 10,39; 13,27–28; 1 Thess 2,14–15.]. Als Jesus ihnen vom Kreuz herab verzieh [Lk 23,24.], entschuldigte er – wie später auch Petrus – die Juden von Jerusalem und sogar ihre Führer mit ihrer „Unwissenheit“ (Apg 3,17). Noch weniger darf man den Schrei des Volkes: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25), der eine Bestätigungsformel darstellt [Apg 5,28; 18,6.], zum Anlaß nehmen, die Schuld auf die Juden anderer Länder und Zeiten auszudehnen.“
Auch wenn sich die beiden großen Kirchen von der Gottesmord-Erzählung abgewendet haben, in vielen evangelikalen und orthodoxen Kirchen und Gemeinden wird dies noch immer kolportiert.
Warum sind seit eh und je die Juden als Christusmörder bezichtigt, aber nicht als Christusgeber gepriesen worden? Liegt dem nicht die niederdrückende Tatsache zugrunde, daß die Menschen – zumal in Gruppen zusammengeschlossen – lieber hassen als lieben, lieber schmähen als anerkennen?
Eva Gabriele Reichmann
gut recherchiert, brillant kommentiert, bravo!
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Gerade der letzte Absatz entlarvt den Antijudaismus im Prinzip doch als Antisemtismus, weil es in Wirklichkeit eben nicht um religiös-theologische Gründe geht:
Ohne Kreuzigung keine Auferstehung und ohne Auferstehung keine Heilsgeschichte.
Ähnlich ist es ja mit dem Verrat durch Judas Ischariot.
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