Das Reichsimpfgesetz von 1874 und die Impfgegner

Das erste Gesetz für eine Impfpflicht gegen die Pocken wurde im Jahre 1807 im Königreich Baiern (damals noch mit ai!) erlassen. Württemberg, Baden, Hessen und zahlreiche andere deutsche Staaten folgten nach. In Folge des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 gab es 1870 und 1873 größere Pockenausbrüche in Deutschland, bei denen mehr als 400.000 Menschen erkrankten, wovon 181.000 starben.

Bereits im Jahre 1870 gab es im Reichstag des Norddeutschen Bundes Bestrebungen, die Gesetzgebung in diesem Bereich zu vereinheitlichen. Daraufhin wurde ein Gutachten der Königlich Preußischen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen angefordert. In diesem Gutachten stellte die Deputation fest:

  1. Die Mortalität bei der Pockenkrankheit hat seit Einführung der der Vaccination bedeutend abgenommen;
  2. Die Vaccination gewährt für eine gewisse Reihe von Jahren einen vollkommenen Schutz gegen die Pockenkrankheit;
  3. Die Revaccination tilgt die wiederkehrende Empfänglichkeit für die Pockenkranheit wiederum für längere Zeit und verschafft einen immer größeren Schutz;
  4. Es liegt keine verbürgte Thatsache vor, welche für einen nachtheiligen Einfluß der Vaccination auf die Gesundheit der Menschen spricht;
  5. Es ist hiernach im öffentlichen Interesse, die Vaccination und die Revaccination auf jede mögliche Weise zu befördern. (1)

Auf Grund dieses Gutachtens wurden daraufhin auch umfangreiche statistische Untersuchungen im gesamten, 1871 frisch gegründeten Deutschen Reich durchgeführt.

1873 reichte dann ein Ausschuss von 21 verschiedenen Versicherungsgesellschaften (meist Lebensversicherungen) eine Petition im Reichstag ein (Petition II, Nr. 17), in der sie beantragte, dass dem Reichskanzler ein Gesetz zur Einführung eines reichsweiten Impf- bzw. Wiederimpfzwanges vorgelegt würde.

In der Begründung dieser Petition heißt es:

Der Gegenstand der Petition sei gerade für die Lebensversicherung von einschneidender Bedeutung, wie dies ein Blick in die Sterblichkeits-Verhältnisse des Jahres 1871 darthue. Nach der in dem Bremer Handelsblatte veröffentlichten Arbeit des inzwischen verstorbenen Finanzraths Hopf zu Gotha „Zustand und Fortschritte der Deutschen Lebens-Versicherungs-Anstalten im Jahre 1871″ feien von den bei 22 im Deutschen Reiche domizilirenden Gesellschaften Versicherten auno 1871 verstorben:
6,277 Personen, auf deren Todesfall 5,548,585 Thaler versichert gewesen, und von den 6,277 Verstorbenen seien allein an den Pocken 866 Personen — mit 501,158 Thlr. versichert — dem Tode erlegen. Mithin seien 13,80 Prozent der versichert wesenen Verstorbenen von den Pocken hingerafft.
Dieser bis dahin nicht erreichte Prozentsatz sei jener ungewöhnlich umfangreichen Epidemie zuzuschreiben und es habe sich damals gezeigt, wie unzureichend die den Versicherungsgesellschaften dagegen zu Gebote stehenden Schutzmittel waren. Ueberzeugt von der Wirksamkeit der Vaccination und Revaccination seien die Anstalten zwar für den Kreis ihrer Thätigkeit um deren Einführung bemüht gewesen, indeß seien sie doch vielfach in die Lage gekommen, Personen, welche weder die Pocken überstanden hatten noch auch geimpft waren, oder welche die Revaccination selbst bei epidemischem Auftreten der Pocken Unterlasten, mit Anträgen auf Versicherung ihres Lebens zurückzuweisen, resp. die Gefahr der Erkrankung an den Pocken von der Versicherung gänzlich auszuschließen, um nicht das Risiko des Pockentodes ohne entsprechende gegentheilige Gewährleistung zu übernehmen.
Das zumeist an die Antragenden gestellte Verlangen, sich vor dem Inkrafttreten neuer Versicherungen impfen resp. revacciniren zu lassen, sei namentlich in gewissen Klassen der Bevölkerung und in einzelnen Deutschen Ländern in der Regel auf unüberwindlichen Widerstand, genährt durch Vorurtheile, welche die Wissenschaft widerlege, gestoßen, und für die früher abgeschlossenen Lebensversicherungs-Verträge seien die Versicherungsanstalten überhaupt schutzlos gewesen. In denjenigen Zeiten, in welchen die so oft wiederkehrende Epidemie nicht gerade herrsche, würden sie dem Publikum gegenüber mit ihrem privaten Verlangen nach Vaccination oder Revaccination immer machtlos sein. Der Durchschnitt der auf Einen der angeführten Todesfälle treffenden Versicherungssumme betrage 884 Thlr., für die Pockentodesfälle allein aber nur 579 Mr. Mithin habe die Pockenepidemie die mit kleinen Summen versicherten, weniger begüterten, Personen in weit stärkerem Grade heimgesucht, als die höher versicherten Reicheren. Auch diese Beobachtung führe zur Nothwendigkeit zwingender gesetzlicher Maßregeln zum Schutze gegen die verheerende Macht der Blattern.
(1)

Es gab aber auch zahlreiche Petitionen, in denen die Aufhebung des Impfzwanges gefordert wurde. Vor allem der „Verein für Naturheilkunde“ aus Chemnitz tat sich mit seiner hervor. Über diese beiden Petitionen beriet der Reichstag nun in seiner Sitzung vom 28. April 1873. Besonders das Argument der Gegen-Petition, dass die Impfung ein Eingriff in die gottgewollte Natur darstelle, sorgte für Unverständnis. Der Abgeordnete Dr. Friedrich Wilhelm Loewe von der Fortschrittspartei brachte hierzu auf den Punkt:

Meine Herren! Wer darin einen Eingriff in die Natur steht, daß hier ein Leben erhalten, ja daß ganze Generationen erhalten werden, der begeht ein Attentat gegen den gesunden Menschenverstand und ein Attentat gegen diese Versammlung, der er zumuthet, das anzuhören, was der Herr Berichterstatter dieser Versammlung pflichtmäßig aus der Petition hat vortragen müssen, als er den Inhalt derselben hier mitgetheilt hat. (2)

Letztendlich wurde über folgenden Antrag abgestimmt: Der Abgeordnete Dr. Löwe schlägt vor: Die Petitionen II. Nummer 17 — und ich darf hinzufügen II. Nummer 1074 — der deutschen Lebensversicherungs Gesellschaften dem Herrn Reichskanzler mit dem Ersuchen zu überweisen, für die baldige einheitliche gesetzliche Regelung des Impfwesens „Für das deutsche Reich auf Grundlage des Vaccinations- und Revaccinationszwanges Sorge zu tragen. (2) Dieser Antrag wurde mit „großer Majorität“ angenommen.

Reichskanzler Otto von Bismarck, von dessen Kanzlei und in dessen Namen das Gesetz ausgearbeitet wurde.

Am 7. Februar 1874 wurde dann der Gesetzesvorschlag des Kanzleramtes vom bayerischen Ministerialrat Emil Heinrich Freiherr von Riedel als Bevollmächtigten der Regierung in den Reichstag eingebracht. Interessant ist, dass in allen drei Lesungen, die dieses Gesetz absolvierte, die Wirksamkeit der Vaccination und Revaccination kaum in Frage gestellt wurde. Der Reichstag stand in seiner großen Majorität hinter der Sache.

Allerdings machten sich die Abgeordneten die Sache nicht einfach, kam man doch schon in den ersten Redebeiträgen auf den eigentlich ausschlaggebenden Punkt: in wie weit darf der Staat in die körperliche Unversehrtheit seiner Bevölkerung eingreifen? Und diese Frage wurde kontrovers diskutiert. Hier verlief die Meinungsgrenze auch nicht zwischen den Fraktionen, sondern durch die Fraktionen hindurch und jeder Abgeordnete stimmte nach eigenem Gewissen ab. Wie intesiv das Impfgesetz beraten wurde, zeigt sich auch darin, dass über jeden Artikel einzeln abgestimmt wurde. Aber letztendlich wurde auch diese Hürde genommen und am 11. April 1874 wurde das Impfgesetz verkündet (beschlossen wurde es am 8. April 1874).

Den Wortlaut des Gesetzes könnt ihr HIER bei den Kollegen von Wikisource nachlesen.

Kaiser Wilhelm I.

Das Reichsimpfgesetz hatte aber auch Auswirkungen auf die schon damals umfangreich vorhandenen Impfgegner. Die Parallelen der damaligen Diskussionen zu heute sind frappierend: Damals wie heute stehen medizinisch nicht ausgebildete Menschen in der ersten Reihe der Impfgegner. Damals wie heute tauchen regelmäßig dieselben Namen publizistisch sehr aktiver Protagonisten auf, wohingegen die Reaktionen aus der Ärzteschaft eher verhalten ausfallen. (3)

Durch das Gesetz begannen die bis dahin versprengten Gruppen und Einzelpersonen an Impfgegnern sich zu organisieren. 1881 wurde beispielsweise eine monatlich erscheinende Zeitschrift mit dem Titel „Der Impfgegner“ gegründet, der als öffentliches Forum und als Organisationsplattform für die diversen Netzwerke diente. Die Herausgeber verstanden sich als Sprachrohr gegen die Zwangsimpfungen, aber auch persönlich gegen die Befürworter des Impfens. Man sieht, schon damals wurden die Befürworter persönlich angegriffen.

Eine der Impfgegnergruppen war beispielsweise der „Deutsche Bund der Impfgegner“, der 1908 sogar einen „Ratgeber für Impfprozesse“ veröffentlichte, in welchem detaillierte Verhaltensregeln für Impfgegner sowie Vorlagen für Schreiben an die Behörden zusammengestellt wurden, um die Pockenimpfung zu umgehen, möglichst unter Vermeidung von Strafe. (3)

Bereits damals gab es unterschiedliche Motivationen, Impfungen abzulehen. Dies waren unter anderem die Angst vor Langzeitwirkungen, die Angst vor dem Einbringen tierischen Materials in den Körper, aber auch die Unterschätzung der Krankheit selbst, gehörten dazu. So kursierten die abstrusesten Vorbeugungs- und Behandlungsmethoden der Pocken in der Impfgegner-Szene. Seien es Wassertherapien, Diäten oder ähnlicher Mumpitz.

Schließlich wurde von Impfgegnern gezielt die Angst vor schwerwiegenden Folgen der Impfung geschürt, etwa durch den Frankfurter Ingenieur Hugo Wegener mit seinen Büchern „Segen der Impfung“ (1911), „Unerhört“ (1911) und „Impffriedhof“ (1912). Erklärtes Ziel: Mütter „in Furcht und Schrecken“ zu versetzen und „die Impfung im Auge des Volkes herabsetzen.“ Dazu sammelte er unter anderem zehntausende Berichte und Fotografen angeblicher Impfopfer, meist Kindern, und veröffentlichte diese im Verlag seiner Frau. (3)

Wir sehen, auch hier gibt es frappierende Parallelen zu den heutigen Impfgegnern. Aber wurde damals von der Ärzteschaft ziemlich wenig entgegen gesetzt und kaum Aufklärung betrieben, so ist dieser Bereich heutzutage recht gut aufgestellt.

Damals wie heute gab es auch unter den Ärzten Impfkritiker und -gegner. 1908 gründete Sanitätsrat Dr. Eugen Bilfinger in Eisenach mit einigen Kollegen den „Verein impfgegnerischer Ärzte“.

Bilfinger kritisierte „grauenhafte Impfschädigungen“, die es zweifelsohne aufgrund der mangelhaften Impfhygiene auch gegeben hat. Er verfasste mit fünf weiteren Gründerärzten des Vereins ein Telegramm an den deutschen Kaiser, in dem er die „amtliche Einberufung einer unparteilichen Kommission zur erneuten Untersuchung der strittigen Impfzwangsfrage“ vorschlug, und zwar „im Interesse der gefährdeten deutschen Wehrkraft“. Über eine Antwort des Kaisers ist nichts bekannt, ebenso wenig über die Mitgliederzahl des Ärzte-Vereins. (3)

Wir sehen, auch über einhundert Jahre später hat sich soviel nicht geändert und das ist, dann doch irgendwie traurig. Allerdings hat die Zeit gezeigt, dass die damaligen Reichstagsabgeordneten richtig entschieden hatten. 1980 meldete die WHO die Pocken weltweit für ausgerottet und das, das ist einer der größten Erfolge der Impfungen.

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Literaturnachweis
(1) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages: I. Legislatur-Periode, IV. Session 1873. Dritter Band Anlagen zu den Verhandlungen des Reichstages.
(2) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages: I. Legislatur-Periode, IV. Session 1873. Erster Band 12. März bis 17. Mai 1873.
(3) Meißner, Thomas: Impfen und zweifeln – Damals wie heute. In: Ärztezeitung online

Bildnachweis
Portrait Otto von Bismarck: Von Bundesarchiv, Bild 183-R15449 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5436363
Portrait Kaiser Wilhelm I.: Von Bundesarchiv, Bild 146-1998-028-13A / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5483702
Flugblatt Impfgegner: https://www.psiram.com/de/index.php/Impfkritik
Titelblatt Impffriedhof: https://www.psiram.com/de/index.php/Impfgegner
Beitragsbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Deutsches_Reichsgesetzblatt_1874_011_031.jpg

4 Gedanken zu “Das Reichsimpfgesetz von 1874 und die Impfgegner

  1. Ausführlich kann man die Debatten um das Reichsimpfgesetz bei Malte Thießen nachlesen (Immunisierte Gesellschaft, Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, S. 42 ff). Manches aus dem heutigen Streit kommt einem in der Tat wie eine Wiederkehr dieser Debatten vor.

    Aber ich würde das nicht nur als „traurig“ bewerten wollen. Fragen nach der Abwägung von kollektivem und individuellem Nutzen oder nach dem Recht des Staats, Impfzwänge oder Impfpflichten anzuordnen, müssen immer wieder neu verhandelt werden. Es geht dabei ja primär nicht um empirische Fragen, bei denen wir heute mehr wissen als damals, sondern um Fragen nach gesellschaftlichen Normen und Menschenbildern, die für unsere Zeit neu zu beantworten sind. Wir können sie allerdings mit viel besserer epidemiologischer und medizinischer Unterstützung beantworten als damals.

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