Es ist schon faszinierend, was für komische Vögel so im Dunstkreis der Theosophie auftauchten. Die komischsten waren aber die Vögel, von denen man bis heute nicht sicher weiß, ob es sie je gegeben hat: die Vril-Gesellschaft.
Jetzt fragen wir uns zuerst einmal äußerst eloquent: VRIL? HÄ? WAT IS’N DAT?
Also: der schottische Autor Edward Bulwer-Lytton schrieb im Jahr 1871 einen phantastischen Roman im Stil von Jules Verne. Sein Titel lautet „The Coming Race“. In Deutschland erschien das Buch unter „Das kommende Geschlecht“ oder auch „Das Geschlecht der Zukunft“. Darin unternimmt der Erzähler des Romans eine Expedition ins Innere der Erde, wo er auf die „Vril-Ya“ stößt, eine menschliche Rasse, die schon vor Jahrhunderten durch eine Naturkatastrophe unter die Erde geraten waren und sich so separat entwickelten. Unter der Erde fanden sie die Vril-Kraft, dank derer sie zu Übermenschen wurden. Die Vril-Ya beherrschten Telepathie, Telekinese, konnten Kranke heilen, Tote erwecken, riesige Felsblöcke bewegen, Kriege gewinnen und den Unterschied zwischen braunen M&Ms und Smarties schmecken ohne hinzuschauen. Ein Teufelszeug.
Der Erzähler wird von den Unterirdischen entdeckt und ausführlich über die Menschen auf der Oberfläche befragt. Da er aber den Eindruck hat, dass die Informationen für einen Kriegszug benutzt werden sollen, flieht er unter gefährlichen Umständen und kann unverfolgt an die Oberfläche zurückkehren. Den Abschluss des Buches bildet ein dramatischer Appell vor der Gefährlichkeit der Vril-Ya für die Menschheit.
Das Buch hat auch einige satirische Züge und nimmt damals aktuelle Themen wie Beispielsweise die gerade einsetzende Frauenemanzipation oder die Evolutionstheorie aufs Korn. Bulwer-Lytton erdachte die „Vril-ya“ und die „Vril“-Kraft, um seinen Lesern mit ihrer Hilfe vor Augen zu führen, welche Folgen Sozialdarwinismus, frühsozialistische Gesellschaftsutopien und die damals beginnende Frauenbewegung seiner Ansicht nach hätten, wenn sie sich durchsetzen würden. Daneben parodiert er in diesem Roman auch den Stil der damals beliebten Reiseberichte und politisch-utopischen Romane.
Das Wort Vril insbesondere wurde vermutlich von dem lateinischen Wort virilis (‚mannhaft‘, ‚kraftvoll‘) abgeleitet. Für die Zwecke seines Romans war es ihm wichtig, eine Rasse zu beschreiben, die sich so weit von den Menschen fortentwickelt hat, dass sie sich nicht mehr mit ihnen vermischen kann und über Kräfte verfügt, denen die Menschen nicht mehr gewachsen sind. In diesem Zusammenhang schrieb Bulwer-Lytton an einen Freund über seine Überlegungen, welche Eigenschaften die Vril-ya in seinem Roman haben sollten:
„Da nun einige Tiere wie der Torpedo oder der Zitteraal elektrisch geladen sind und sie diese Kraft nicht anderen Körpern mitteilen können, so gehe ich von der Existenz einer Rasse aus, die mit Elektrizität geladen ist und die Kunst erworben hat, sie zu konzentrieren und zu kontrollieren, mit einem Wort, Leiter ihrer Blitze zu sein. Wenn Du irgendeinen anderen Vorschlag zur Umsetzung der Idee von einer zerstörerischen Rasse hast, würde mich das freuen. Wahrscheinlich sollte die Vorstellung des Vril noch mehr von Mesmerismus und Mystizismus befreit werden, indem es einfach als Elektrizität bezeichnet wird […]“
Die kulturpessimistische Sichtweise Bulwer-Lyttons war in der Literatur seiner Zeit keineswegs ein Einzelfall. Unter der kulturellen Elite des viktorianischen Englands waren Zweifel an dem gerade aufkommenden Maschinenzeitalter weit verbreitet. In der Literatur dieser Zeit finden sich viele Beispiele, in denen die Bewunderung des naturwissenschaftlichen Fortschritts mit einer Warnung vor seinen Risiken einhergeht.
Allerdings kann keine Erzählung so abstrus sein, als dass nicht jemand kommt und sie für bare Münze nimmt. Ja genau, das ganze Gedöns, das Bulwer-Lytton in seinem Roman schrieb, hat jemand geglaubt. Und dieser jemand war zu allem Unglück auch noch unsere alte Freundin Helena Blavatsky, die natürlich sofort daranging, Vril in ihre Theosophie mit einzuarbeiten. Ja, echt, ich veralbere euch nicht. Das ist, als wenn ich glaubte, dass Raumschiff Enterprise real wäre und jetzt wissenschaftliche Werke über den Warp-Antrieb schreiben würde.
Dadurch, dass Bulwer-Lytton die erst Auflage seines Buches anonym veröffentlichte (er hatte Bedenken, dass er sich seinen Ruf ruinieren würde, wenn die Literaturkritik ein solch triviales Werk aus seiner Feder verreißen würde.), gingen okkultistische Kreise davon aus, dass ein „geheimer Meister“ ihnen anonym geheimes Wissen mitteilen wollte.
Als dann bekannt wurde, dass Bulwer-Lytton der Autor war, war für die Okkultisten alles klar. Bulwer-Lytton war nämlich 1870, also ein Jahr vor dem Erscheinen von „The Coming Race“ zum „Grand Patron“ der „Societas Rosicruciana in Anglia“ geworden, also der britischen Rosenkreuzer. Dass dies gegen den Willen des Autors geschah und er an die Rosenkreuzer geharnischte Briefe geschrieben hatte, dass er dies nicht wolle, interessierte natürlich niemand.
Blavatsky sah Vril für eine tatsächlich im geheimen existierende Naturkraft an, und stellte sie auch in ihrem 1877 erschienenen Buch „Die entschleierte Isis“ als solche dar. Als sie elf Jahre später ihr zweites Buch „Die Geheimlehre“ schrieb, ging sie sogar noch weiter und verknüpfte Vril mit dem Atlantis-Mythos und behauptete, dass die Atlanter (Atlantier?) Vril dazu benutzt hätten, große Bauwerke zu errichten und die gesamte Natur zu beherrschen. 1896 griff dies der Theosoph William Scott-Elliot in seinem Buch „Atlantis nach okkulten Quellen“ auf und beschrieb Vril als Antriebskraft für Luftschiffe.
Nachdem die Theosophen Vril entdeckt und in ihre Lehre mit eingebaut hatten, gab es auch für andere okkultistische und esoterische Autorinnen und Autoren kein Halten mehr. Vril wurde ein Synonym für eine okkulte Lebens- oder Naturkraft, mit der man so ziemlich alles erreichen konnte.
Eine besondere Rolle soll das Zagreber Medium Maria Orsic (auch: Orsitsch, geb. 1895, Todesdatum unbekannt) gespielt haben, das angeblich über ein Channeling telepathisch Nachrichten einer Templergeheimschrift mit technischen Angaben zum Bau einer Flugmaschine erhielt. Die geheimnisvoll erhaltenen Botschaften kamen vom Sonnensystem Aldebaran, in dem zwei angeblich bewohnte Planeten existierten, auf denen ein Herrenvolk von „lichten Gottmenschen“ (Arier) leben sollte. Des Weiteren existierten dort auch verschiedene andere menschliche Rassen, die sich durch „negative Mutationen“ aus diesen Gottmenschen entwickelt haben sollen. Diese seien anderer (dunkler) Hautfarbe und sollen eine geringere „geistige Entwicklungsstufe“ haben. Die Herrenrasse der lichten Gottmenschen habe dann vor etwa 500 Millionen Jahren damit begonnen, andere erdähnliche Planeten zu kolonisieren. So sollen sie mit speziellen Fluggeräten die 68 Lichtjahre überwunden haben, in Mesopotamien auf der Erde gelandet sein und den historischen Sumerern entsprechen. Die sumerische Sprache sei nicht nur Aldebaranisch, sondern soll auch Ähnlichkeiten zur deutschen Sprache aufweisen. Orsitsch hatte Kontakte zu Rudolf von Sebottendorf, dem Gründer der Thule-Gesellschaft.
Diese geheimnisvolle Kraft soll durch die „Vril-Gesellschaft“ erforscht worden sein, wie der Raumfahrtingenieur Willy Ley behauptete, der zum Schutz vor den Nazis in die USA emigrierte. 1947 veröffentlichte er den Artikel „Pseudoscience in Naziland“, in dem er auch von der Vril-Gesellschaft sprach und ihr den Namen „Wahrheitsgesllschaft“ gab. Er schrieb:
Die nächste Gruppe beruhte buchstäblich auf einem Roman. Diese Gruppe, die sich, wie ich glaube, Wahrheitsgesellschaft nannte und mehr oder weniger in Berlin ansässig war, widmete ihre Freizeit der Suche nach Vril. Ja, ihre Überzeugungen fußten auf Bulwer-Lyttons ‚The Coming Race‘. Sie wussten, dass das Buch eine Erfindung war, Bulwer-Lytton habe diesen Kunstgriff benutzt, um die Wahrheit über diese ‚Kraft‘ erzählen zu können. Die unterirdische Menschheit war Unsinn, Vril nicht. Möglicherweise hatte es die Briten, die es als Staatsgeheimnis hüteten, in die Lage versetzt, ihr koloniales Reich aufzubauen. Sicherlich besaßen es die Römer, eingeschlossen in kleine Metallkugeln, die ihre Heime beschützten und als lares bezeichnet wurden. Aus Gründen, die ich nicht durchschauen konnte, konnte das Geheimnis des Vril entdeckt werden, indem man sich in die Betrachtung der Struktur eines in zwei Hälften geschnittenen Apfels versenkte. Nein, ich mache keine Scherze, das war es, was mir mit großer Feierlichkeit und unter Geheimhaltung erzählt wurde. Eine solche Gruppe existierte tatsächlich; sie brachte sogar die erste Ausgabe eines Magazins heraus, in dem sie ihr Credo proklamierte. (Ich wünschte mir, ich hätte einige dieser Sachen behalten, aber so, wie die Dinge lagen, hatte ich schon genug Bücher hinauszuschmuggeln.)“
Man kann annehmen, dass Ley die „Reichsarbeitsgemeinschaft ‚Das kommende Deutschland‘“ gemeint haben könnte. Diese gaben 1930 zwei kleine Schriften mit den Titeln „Vril – Die kosmische Urkraft“ und „Weltdynamismus“ sowie eine „Zeitschrift für Weltdynamismus“ heraus. Vergleicht man nun diese Schriften mit den Erinnerungen Leys, so kann es durchaus sein, dass hier die gleiche Organisation gemeint ist. Allerdings konnte nie geklärt werden, wer hinter dieser Reichsarbeitsgemeinschaft steckte.
Die Vril-Gesellschaft, von der heute allerdings noch fabuliert wird, wurde erst im Jahr 1960 von den Franzosen Louis Pauwels und Jacques Bergier erfunden. Sie behaupteten, dass die Vril-Gesellschaft (teilweise auch „Die Loge der Brüder vom Licht“) dafür da gewesen sei, Bünde mit übernatürlichen Mächten vorzubereiten. Diesen Ansatz verfolgten auch andere Autoren weiter. Und je weiter dieser Stoff entwickelt wurde, desto hanebüchener wurde die Story.
Ein ganz besonderer Dreh gelang aber dem Autorenduo Norbert Jürgen-Ratthofer und Ralf Ettl, die 1992 in ihrem Buch „Das Vril-Projekt“, indem sie Vril mit dem Flugscheiben-Mythos verbanden. Ihnen zufolge habe sich die „Vril-Gesellschaft“ aus der Thule-Gesellschaft entwickelt und esoterische Studien betrieben. Anfang der 1920er Jahre hätten die Aldebaraner telepathische Kontakte zu ihr und zu einem inneren Zirkel der SS aufgenommen, über die sie Pläne zum Bau einer Flugmaschine erhielten. 1922 soll die „Vril-Gesellschaft“ auf der Basis dieser Informationen ein untertassenförmiges Flugschiff gebaut haben, die so genannte „Jenseitsflugmaschine“. Über diverse Zwischenschritte, an denen unter anderen der österreichische Erfinder Viktor Schauberger beteiligt gewesen sein soll, führte dies dann angeblich zum Bau einer Version („V7“), mit der Mitglieder der „Vril-Gesellschaft“ 1945 zum Aldebaran gereist sein sollen. Außerdem seien weitere untertassenförmige Fluggeräte (mit Namen wie „Vril“ und „Haunebu“) entwickelt worden, mit deren Hilfe sich schließlich Angehörige der Vril-Gesellschaft und der SS 1945 ins antarktische Neuschwabenland abgesetzt hätten.
Das Buch der beiden zirkulierte allerdings nur in recht übersichtlichen rechtsesoterischen Kreisen. Erst als Jan Udo Holey die Thematik aufgriff und den Stoff in sein 1996 erschienenen Buch „Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert“ (veröffentlicht unter dem Pseudonym Jan van Helsing) aufnahm, wird die Story bekannter. Ein Jahr später folgte dann das Buch „Unternehmen Aldebaran“, in dem Holey die Geschichte noch weitertrieb und ausschmückte.
Natürlich bleiben all diese Schreiberlinge stichhaltige, überprüfbare Beweise aus seriösen Quellen zu den Personen oder Vereinigungen schuldig, so dass man die ganze Geschichte getrost ins Fantasy-Regal einsortieren kann.
Vril und Aldoberan waren mir bis heute nicht geläufig. Ich mage Fantasiewelten und Mythen, leider können sie gefährlich werden, wenn daraus Pseudowissenschaft wird.
Man kann gar nicht oft genug darauf verweisen, dass die ganze Vril-Geschichte Quatsch ist und von rechtsextremen Esoterikern aufgebaut wurde. Vor wenigen Wochen habe ich dazu auch ein Video gemacht https://www.youtube.com/watch?v=_euKEjXUZg0&t=35s
Jetzt bin ich sicher: In den Schulen wird der Unterschied zwischen den Sparten der fiktionalen und der non-fiktionalen Literatur nicht hinreichend vermittelt. Nicht nur bei uns. Weltweit. Vielleicht sind doch die Reli-Lehrer schuld. Mit der Bibel sollte man erst anfangen, wenn der o.g. Unterschied klar ist.