Hildegard von Bingen und ihre Medizin

Ihr kennt sie sicherlich alle oder habt schon mal was von ihr gehört. Hildegard von Bingen, die Margot Käßmann der Walla-Walla-Mittelaltermedizin. Es gibt wohl kein Thema, wo es keinen „Hildegard-Ratgeber“ dazu gibt. Vom eingewachsenen Fußnagel bis hin zum Glioblastom. Hildchen hat zu allem was gesagt. Eben wie Frau Käßmann. Hauptsach‘ was g’sagt.

Dabei tue ich der historischen Person Hildegard von Bingen mit diesen Worten wahrscheinlich Unrecht. Sie war eine Universalgelehrte des Mittelalters, komponierte, dichtete, schrieb und war die erste bedeutende Mystikerin in Deutschland.

Die historische Hildegard wurde 1098 geboren und starb am 17. September 1179. Sie kam mit acht Jahren ins Kloster und wurde von verschiedenen Damen religiös erzogen. Unter anderem wurde sie 1112 zusammen mit zwei anderen Frauen in einem sogenannten Inklusorium des Klosters Disibodenberg eingeschlossen. Das stelle ich mir jetzt auch nicht gerade prickelnd vor. Nun gut, wenn’s gefällt. Hildegard schrieb religiös-mystische Texte, die nach ihren eigenen Angaben von Visionen inspiriert wurden. Ab 1141 ließ sie diese Visionen dann niederschreiben und nach einer Erlaubnis von Papst Eugen III. ab 1147 veröffentlichen.

Hildegards sehr bildliche Beschreibungen ihrer körperlichen Zustände und ihrer Visionen interpretiert der Neurologe Oliver Sacks als Symptome einer schweren Migräne, speziell aufgrund der von ihr geschilderten Lichterscheinungen (Auren). Sacks und andere moderne Naturwissenschaftler vermuten, dass Hildegard an einem Skotom litt, das diese halluzinatorischen Lichtphänomene hervorrief. (1)

Hildegard hatte auch noch einen umfangreichen Briefwechsel mit zahlreichen bedeutenden geistlichen und weltlichen Menschen. Darin gab sie – auch ungefragt – gute Ratschläge und Belehrungen. Außerdem gründete sie fix noch zwei Klöster und dann war sie auch schon 82 und trat von der Bühne ab.

Gut, das ist jetzt ein Schnelldurchlauf, aber wer sich detailliert zum Leben der Hildegard von Bingen informieren möchte, der findet ohne größere Probleme sehr, sehr, sehr vieles an Literatur. Deswegen halte ich mich hier vorsätzlich so knapp.

Aber kommen wir zur Walla-Walla-Mittelaltermedizin von dat Hildchen.

Und bei diesem Thema steht am Anfang ein dickes Fragezeichen. Hildegard soll nämlich zwischen 1150 und 1160 zwei „natur- und heilkundliche Werke“ geschrieben haben. Die Wikipedia schreibt hierzu recht euphemistisch: Im Gegensatz zu den visionären Schriften gibt es keine Abschriften, die auf Hildegard selbst bzw. ihre unmittelbare Umgebung zurückgehen. Alle erhaltenen 13 Textzeugen (Handschriften) sind erst 100 Jahre nach ihr oder noch später (vom 13. bis 15. Jh.) entstanden, so dass teilweise ihre Autorschaft angezweifelt wurde. (1)

Also halten wir fest: gut 100 Jahre nachdem Hildegard verstorben ist, tauchen plötzlich zwei Bücher auf, von denen behauptet wird, dass sie von ihr stammen. Das lässt mich schon die Augenbraue hochziehen. Die beiden Titel lauten Physica und Causae et curae. Von beiden Büchern ist im restlichen Werk nie die Rede. Dafür aber von einem naturkundlichen Buch mit dem Titel Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum. Damit „könnte“ die Physica gemeint sein, heißt es. Es könnte aber auch ein ganz anderes Werk sein und die beiden überkommenen Bände wurden einfach unter ihrem Namen veröffentlicht.  Fälschungen waren im Mittelalter ja gang und gäbe.

Gehen wir aber mal einen Moment davon aus, dass die beiden Bände tatsächlich von Hildegard sind und werfen einen Blick hinein.

Und da finden wir für die damalige Zeit keine großen Überraschungen. Ihre Ausführungen sind sehr nahe an der von Galen entwickelten Humoralpathologie oder „Vier-Säfte-Lehre“, oftmals wurden nur die Begrifflichkeiten geändert. Krankheiten entstehen aus einem gestörten Gleichgewicht zwischen Körper und Seele. An dieser Sicht merkt man schon, dass der Grundtenor kein naturwissenschaftlicher, sondern ein theologischer ist. Die Heilkraft von Pflanzen, Steinen und Metallen resultiert aus der ihnen innewohnenden göttlichen Kraft. Deswegen wird auch versucht, eine Heilung durch die seelische Reinigung durch Gebet und Meditation zu erzielen.

Weiterhin wird auf ausleitende Verfahren, beispielsweise den Aderlass, das Schröpfen, Schwitzbäder oder eine diätische Ernährung (Hildegard-Dinkel) gesetzt.

Absoluter Mumpitz ist, was man mit Edelsteinen bzw. Mineralien treiben soll. Nämlich um den Hals tragen (das geht ja noch, aber wie soll das heilen?), als Elixier trinken oder pulverisieren und ins Essen streuen. Lasst es mich kurz machen: alles Blödsinn.

Und die so oft beworbenen Fastenkuren nach Hildegard, tja, die gibt es gar nicht. In beiden Bänden findet sich ein einziger Satz zum Thema Fasten, nämlich dass man es nicht übertreiben soll. Mehr nicht. Es gibt definitiv keine spezielle Fastenmethode nach Hildegard von Bingen.

Dieses ganze hyperventilierende Hildegard-Glorifizierung geht auf den österreichischen Arzt Gottfried Hertzka und den deutschen Heilpraktiker Wighard Strehlow zurück, die zum Ende der 1970er Jahre hin den Begriff der Hildegard-Medizin erfanden und anfingen auszuschlachten. Und heute gibt Bücher, DVDs, Vorträge, spezielle Hildegard-Edelstein, Hildegard-Dinkel, Hildegard-Kosmetik und Hildegard-Watweißichnichtnochalles. Ein riesiges Geschäftsfeld.

Es gibt bis heute keine einzige, legal zugelassene Hildegard-Arznei. Die meisten der verwendeten Pflanzen kann man in jeder Apotheke (i.d.R. ohne Rezept) kaufen. Hertzka propagiert die Hildegard-Medizin als eine Heilweise für jedermann. Theoretische Grundlagen der Körperfunktion, deren Ursachen und Behandlung von Krankheiten scheinen für ihn bedeutungslos zu sein. Die Wirksamkeit der Hildegard-Medizin ist wissenschaftlich nicht bewiesen.

Die Medizinhistorikerin Irmgard Müller, die zu den naturheilkundlichen Schriften Hildegards publiziert hat, bezeichnet die so genannte Hildegard-Medizin als nicht authentisch und nicht auf den Hildegard zugeschriebenen Schriften basierend. Zutreffend müsse sie daher eigentlich als ‚Hertzka-Medizin‘ bezeichnet werden. Es handele sich um ein ‚therapeutisches Konstrukt profitbewusster Marktstrategen‘. (2)

Ich für meinen Teil glaube, dass das arme Hildchen im Grabe rotieren würde, wenn sie wüsste, was in ihrem Namen alles für ein Unsinn verzapft würde. Persönlich finde ich es schon ein stückweit eklig, wie hier eine historische Persönlichkeit aus Geldgier ausgeweidet wird. Pfui Deibel!

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