Reichsbürgereien

Habt ihr sie gesehen am Wochenende in Berlin? Wie sie mit ihren schwarz-weiß-roten Winkelementen grenzdebil vor der russischen Botschaft standen und „Friedensvertrag“ blökten? Das waren, auch wenn man es denken könnte, nicht die Partypeople einer Teewurst-Sause in der Schülerküche, nein, das waren Reichsbürger. Natürlich keine echten Reichsbürger, Reich hammer ja schon ein paar Tage nicht mehr, aber sie wären es halt gerne. Am allerbesten noch mit sich selbst als Reichskanzler. Wenn schon denn schon.

Nun, jedenfalls glauben diese Herrschaften noch, dass der Zweite Weltkrieg noch immer andauert, Deutschland besetzt ist und wir eigentlich vom Alliierten Kontrollrat regiert werden. Dazu haben sie sich ellenlange und komplizierte Theorien zusammengesponnen, die sich zwar teilweise widersprechen, aber gut, mit Logik haben es diese Herrschaften ja nicht so.

Ich könnte mich jetzt hinsetzen und all jene nitpickerischen Behauptungen aufdröseln und debunken. Brauche ich aber nicht, hat schon jemand gemacht, nämlich der Gerhard Schumacher in seinem empfehlenswerten Band „Vorwärts in die Vergangenheit“ (gibt’s beim JMB-Verlag für 19,95 €. Lohnt sich, kauft das!).

Allerdings frage ich mich, in welcher verzerrten Welt diese armen Menschen leben, dass sie glauben könnten, wir hätten noch Krieg und wären noch ein besetztes Land.

Schauen wir uns mal einen Umstand an, den wir alle kennen. Die „Lebensrealität“ oder „Lebenswirklichkeit“:

Und ich weiß ja nicht, wie die bei euch aussieht, aber auf mich hat schon länger niemand mehr geschossen. Eigentlich hat noch nie jemand auf mich geschossen. Damit bin ich auch nicht alleine, was aber auch keine große Kunst ist, finden doch seit Mitte 1945 keine Kriegshandlungen mehr statt.

Gut, schauen wir weiter: Deutschland ist eingebunden in zahlreiche internationale Organisationen, die UNO oder die KSZE als Beispiel. In der EU ist Deutschland mit dem ehemaligen Kriegsgegner Frankreich die treibende Kraft. Deutschland ist für Frankreich der wichtigste Partner in Europa, wie so ziemlich jeder Staatspräsident seit Giscard d’Estaing betonte.

Deutschland ist auch Mitglied der NATO, einem Militärbündnis, in dem auch die ehemaligen Kriegsgegner sind, und ist hier auch gleichberechtigter Partner. Auch im Rahmen von UN-Blauhelm-Missionen leistet Deutschland seinen Teil in der Welt.

Die Staaten der Welt – darunter auch die ehemaligen Alliierten – unterhalten Botschaften in Berlin. Militärgouverneure oder eine Militärverwaltung der Alliierten über Deutschland gibt es schon seit Ende der 1940er Jahre nicht mehr. Und als 2003 die USA unter G.W. Bush in den Irak einmarschierten, verweigerte der damalige Bundeskanzler Schröder die Unterstützung. Klingt das nach einem Vasallenstaat?

Den Friedensvertrag gibt es de facto schon, nur heißt der „2 plus 4 Vertrag“.

Nun, so sieht im Großen und Ganzen die aktuelle Lage oder „Lebenswirklichkeit“ der Bundesrepublik aus. Wie man diese leugnen kann, ist mir unverständlich.

Ich möchte an dieser Stelle meine Omma zitieren, die wurde ja 1911 geboren, erlebte also das Ende der Kaiserzeit, die Weimarer Republik, das „Dritte Reich“ und den Beginn der Bundesrepublik. Wisst ihr, was die zu diesen ewig „Früher war alles besser“-Blökern sagte?

Früher war ooch alles Scheiße. Nur der Jeruch war ein anderer.

Beitragsbild: Von Leonhard Lenz – Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=92825233
(Achtung! Das Beitragsbild stammt von der Demonstration am 1. August 2020 in Berlin, von der am 29. August habe ich keine guten freien Bilder gefunden.)