Das nationalsozialistische Menschenbild und der daraus resultierende Paradigmenwechsel in der Medizin

Dass das nationalsozialistische Menschenbild nicht von Humanismus und Nächstenliebe geprägt war, düfte jetzt keine große Überraschung sein. Für die Nationalsozialisten war das Individuum absolut nachrangig. Das Menschenbild war so uniform, wie die Gesellschaft selbst. Der einzelne Mensch zählte nur so lange, wie er seine durch das nationalsozialsitische Weltbild definierte Rolle ausfüllte. Bei den Frauen war dies die Ernährerin und Gebärerin, bei den Männern die des Arbeiters und Soldaten. Auch wurde das strikte „Führerprinzip“ in die Gesellschaft implementiert, was bedeutet, dass in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, sei es in den Schulklassen, sei es in den Parteigliederungen, die das Vereinswesen ersetzten oder in Kameradschaften sich die stärksten (nicht die klügsten!) Mitglieder durchsetzen und die Führung übernehmen sollten. Herbert Marcuse bringt es treffend auf den Punkt: Der NS-Staat ist nicht die Kehrseite, sondern die Vollendung des Konkurrenzindividualismus. Er lässt alle Kräfte des brutalen Eigennutzes frei, die die Demokratien zu zähmen und mit der Freiheit auszusöhnen suchten. (1)

Das Individuum [ist] zu einer Nummer in der „Masse“ herabgesunken. Tatsächlich ist das Dritte Reich ein „Massenstaat“, der alle individuellen Interessen und Kräfte zu einer emotionalen Menschenmasse verschmolzen hat, die durch das Regime höchst geschickt manipuliert wird. Jedoch sind diese Massen nicht durch ein gemeinsames Interesse und „Bewusstsein“ vereint. Sie bestehen vielmehr aus Individuen, die ihr primitives Eigeninteresse verfolgen, das auf den reinen Selbsterhaltungstrieb reduziert ist. Dieser Trieb ist allen gemeinsam; er macht die Einheit dieser Massen aus. Aber diese Vereinigung von Individuen zu einer Masse hat die Atomisierung des Einzelnen und seine Isolierung von den Mitmenschen nicht beseitigt, sondern eher befördert. (1)

Über dem Individuum stand die Volksgemeinschaft, wobei man einem vermeintlich „germanischen“ Prinzip nachjagte. Der Mensch hatte sich zuerst mit Sippe, dann mit Stamm, dann mit dem Volk zu identifizieren. Man könnte sagen, der Nationalsozialismus war ein vorweggenommenes Borgkollektiv.

Aber auch im deutschen Volk, oder besser in der „arisch-germanischen Volksgemeinschaft“, stand es nicht zum Besten, wie Hitler in „Mein Kampf“ ausführte: Unser deutsches Volkstum beruht leider nicht mehr auf einem einheitlichen rassischen Kern. Der Prozeß der Verschmelzung der verschiedenen Urbestandteile ist auch noch nicht so weit fortgeschritten, daß man von einer dadurch neugebildeten Rasse sprechen könnte. Im Gegenteil: die blutsmäßigen Vergiftungen, die unseren Volkskörper, besonders seit dem Dreißigjährigen Kriege trafen, führten nicht nur zu einer Zersetzung unseres Blutes, sondern auch zu einer solchen unserer Seele. Die offenen Grenzen unseres Vaterlandes, das Anlehnen an ungermanische Fremdkörper längs dieser Grenzgebiete, vor allem aber der starke laufende Zufluß fremden Blutes ins Innere des Reiches selbst, läßt infolge seiner dauernden Erneuerung keine Zeit übrig für eine absolute Verschmelzung. Es wird keine neue Rasse mehr herausgekocht, sondern die Rassebestandteile bleiben nebeneinander, mit dem Ergebnis, daß besonders in kritischen Augenblicken, in denen sich sonst eine Herde zu sammeln pflegt, das deutsche Volk nach allen Windrichtungen auseinanderläuft. (2)

Hitlers Meinung nach, sähe die Welt, bei einer „Reinerhaltung“ des deutschen Volkes zu Zeiten seiner Festungshaft anders aus: Würde das deutsche Volk in seiner geschichtlichen Entwicklung jene herdenmäßige Einheit besessen haben, wie sie anderen Völkern zugute kam, dann würde das Deutsche Reich heute wohl Herrin des Erdballs sein. Die Weltgeschichte hätte einen anderen Lauf genommen und kein Mensch vermag zu entscheiden, ob nicht dann auf diesem Wege eingetroffen wäre, was so viele verblendete Pazifisten heute durch Winseln und Flennen zu erbetteln hoffen: Ein Friede, gestützt nicht durch die Palmwedel tränenreicher pazifistischer Klageweiber, sondern begründet durch das siegreiche Schwert eines die Welt in den Dienst einer höheren Kultur nehmenden Herrenvolkes. (3) Aber Hitler ist sich sicher, dass man mit diversen Aufzuchtmaßnahmen, wie sie nach der Machtergreifung beispielsweise der Lebensborn e.V. werden wird, eine Rückkehr zur Reinheit der arisch-germanischen Rasse erreicht werden kann.

In „Mein Kampf“ stellt Hitler also die Behauptung auf, dass sich der Mensch zuerst – und am wichtigsten – durch seine Rassenzugehörigkeit definiert. Innerhalb dieser Volksgemeinschaft sollen diejenigen, die als „rassisch besonders wertvoll erkannt“ wurden, die beste Versorgung und Förderung erhalten. Ansonsten hatte das Individuum seine vorgezeichnete Rolle innerhalb der Volksgemeinschaft auszufüllen. Diese Volksgemeinschaft war im nationalsozialistischen Sinne hauptsächlich eine rassenbiologisch verstandenes Synonym für die Idee einer arisch-germanischen „Abstammungsgemeinschaft“. Deswegen waren für die Nazis auch die Olympischen Spiele von 1936 auch so wichtig, sollten sie doch die Überlegenheit des arisch-germanischen Menschen über die anderen Teilnehmer dokumentieren. Hitlers Reaktion auf den Sieg des afro-amerikanischen Jesse Owens ist ja bekannt. (Und wenn nicht: hier ein Beitrag von Sportschau History)

Die „Rassen“ selbst unterteilt Hitler in „kulturschöpferische“, „kulturtragende“ und „kulturzerstörende“ Völker. Der deutschen Volksgemeinschaft kam hier natürlich eine ganz besondere Rolle zu. Sie war die Herrenrasse, das Herrenvolk, das mit der Schaffung eines arisch-germanischen Staates vom „Schöpfer des Universums“ beauftragt war.

Aus dieser Sicht heraus, dass die Völker verschiedene Wertigkeiten besaßen und es für die Nationalsozialisten somit auch „minderwertige“ Rassen gab, erklärt sich deren Besessenheit der Rassenhygiene bis hin zur Shoa.

Auch in der Medizin zeichnete sich ein Paradigmenwechsel hin zur eher kollektivistischen Medizin. Dies zeigte sich schon in einem Artikel des Reichsärzteführers Dr. Gerhard Wagener aus dem Jahr 1935 in der Zeitschrift „Volksgesundheitswacht“, in dem er schreibt: Wenn wir heute eine neue Heilkunde aufbauen wollen, so kann das Fundament dieser Heilkunde niemals die exakte Naturwissenschaft sein, sondern das Fundament kann nur sein unsere nationalsozialistische Weltanschauung. […] Diese Weltanschauung sieht den Menschen nicht mehr als Einzelindividuum, sondern als Glied einer großen deutschen blutsverbundenen Volksfamilie, als Erben rassischer, körperlicher und geistig-seelischer Eigenschaften, die er als Träger der Zukunft seines Volkes an künftige Generationen seines Volkes weiter zu geben hat. Diese Erkenntnis beruht auf der biologischen Betrachtungsweise, die wir verloren hatten. Sie führt uns mit zwingender Folgerichtigkeit wieder zu der Erkenntnis, daß Rasse, Volk und Volksgenosse wiederum nur Bestandteil des allumfassenden ewigen Lebens der Natur sind. (4)

Dies zeigt bereits den Weg auf, der in den folgenden Jahren in der Medizin eingeschlagen werden sollte. 1936 veröffentlichte der stellvertretende Reichsärzteführer Friedrich Bartels sein Konzept zur „Gesundheitsführung“. Darin wird jeder „Volksgenosse“ zur Gesundheit „verpflichtet“. Dies bedeutete für die Medizin ein starke Fokussierung auf den Präventionsgedanken sowie eine Stärkung der Arbeitsmedizin. Im Zentrum aller Bemühungen stand die Erhaltung der Arbeitskraft, auch wenn dies zu Lasten der Gesundheit des Individuums ging. Weitere Schwerpunkte, die gelegt werden sollten, war die Wehrertüchtigung, die Bewegungstherapie und Krankengymnastik sowie die damals noch relativ neue Sportmedizin.

Eingedenk des nationalsozialistischen Rassenwahns, nimmt es nicht Wunder, dass die „Rassenhygiene“ einen breiten Raum in der Medizin der damaligen Zeit einnahm. So wurden an den aus kaiserlicher Zeit, und in allen Kreisen und Städten eingerichteten, staatlichen Gesundheitsämtern Abteilungen für Rassenhygiene eingerichtet. Meist die finanziell am besten ausgestatteten Abteilung, deren Hauptaufgabe in der Durchsetzung der Nürnberger Rassegesetze war.

Am Reichsgesundheitsamt in Berlin wurde auch eine spezielle „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ eingerichtet. Unter der Leitung von Robert Ritter erarbeitete diese Forschungsstelle schwerpunktmäßig und in enger Zusammenarbeit mit der Polizei die Begutachtungen von ca. 30.000 vor allem im Deutschen Reich lebenden „Zigeunern“. Sie lieferte so die pseudowissenschaftliche Grundlage für die Ermordung und Zwangssterilisation Tausender Roma.

Neben diesen nationalsozialistischen Verbrechen war die Ärzteschaft und ihre Reichsführung auch an der „Aktion T4“ beteiligt, koordinierte Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisationen, Krankenmorden und die „Vernichtung unwerten Lebens“. SS-Ärzte führten in den Konzentrationslagern unmenschliche Versuche an den Inhaftierten durch.

Ein weiterer Teil des Paradigmenwechsels war die „Neue Deutsche Heilkunde“, über die ich bereits HIER berichtet habe und die über ihre Anfänge nicht hinaus ging.

Die ersten Maßnahmen der Nationalsozialisten im Bereich der Medizin waren aber Repressalien gegen jüdische Ärzte. Die ersten Einschränkungen und Verbote wurden bereits kurz nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten erlassen. So wurden mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 alle „nichtarischen“ Ärzte aus dem öffentlichen Gesundheitswesen entfernt. Heißt also alle Ärzte, die bei Gesundheitsämtern, Universitätskliniken, staatlichen Krankenhäusern oder in der Gesundheitsverwaltung tätig waren, verloren ihre Anstellung. Drei Monate später trat ein Verbot in Kraft, welches die Zusammenarbeit von „arischen“ und „nichtarischen“ Ärzten verbot. Schon schlichte Überweisungen waren verboten.

Im Januar 1934 folgte dann die Weisung, dass „Nichtarier“ nur noch im Ausnahmefall die Zulassung zur Promotion erhielten und 1935 wurden im Rahmen der „Nürnberger Rassegesetze“ die Zulassung zur Facharztprüfung und die Approbation mit der Vorlage eines „Ariernachweises“ verbunden.

Julius Streicher, der Nürnberger Gauleiter und Herausgeber des NS-Hetzblattes „Der Stürmer“ brüstete sich 1935 während einer Ärztekonferenz wiefolgt: Wir wissen, es gibt jüdische Ärzte, die früher, solange sie an den Krankenkassen zugelassen waren, monatlich viel verdient haben und heute noch mehr verdienen. Warum? Weil wir so verkommen sind, so krank sind, daß wir uns nicht schämen heute noch zum Juden zu gehen. Wer hat als erster in Deutschland seien Stimme erhoben: Geht nicht zu jüdischen Ärzten! Nicht die Partei, nicht die Bewegung, sondern ich! (5)

1936 folgte ein Verbot für alle Beamten, sich von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen und 1937 durften „Nichtarier“ dann gar nicht mehr zur Promotion zugelassen werden. Als 1938 das der allgemeine Approbationsentzug für jüdische Ärzte verkündet wurde, waren von den ehemals gut 8.000 jüdischen Ärzten nur noch um die 3.000 geblieben. 2.300 betraf dann der Approbatonsentzug und gut 700 durften als „jüdische Krankenbehandler“ weiterarbeiten.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde auch die Medizin auf „Kriegsbetrieb“ umgestellt, sodaß weitere, noch tiefgreifendere Veränderungen als die bisherigen nicht mehr umgesetzt wurden.

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(1) Marcuse, Herbert: Staat und Individuum im Nationalsozialismus. In: Le Monde diplomatique vom 13.10.2000.
(2) Hartmann, Christian: Hitler, Mein Kampf. Berlin, 2016. S. 1013.
(3) Ebd. S. 1015.
(4) Zitiert nach Gruschka, Theodor: Eine neue deutsche Heilkunde. In: Internationales ärztliches Bulletin. Prag, 1935. 7(2). S. 87-92.
(5) Ebd.

Beitragsbild: Von Bundesarchiv, Bild 183-2000-0110-500 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5426134

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