Ferdinand Sauerbruch und die Homöopathie – Teil 2: Wirken und Leistungen

Teil 2
Wirken und Leistung
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N‘n Fehler von mir sieht man über hundert Jahre an de Wand häng‘n.
Wenn Sie ‘n Fehler machen, dann deckt ihn anderntags der jriene Rasen.“
– Max Liebermann (Maler) zu Ferdinand Sauerbruch (Chirurg)

Ferdinand Sauerbruch hielt es sich immer zugute, dass er ein allgemeiner Chirurg war, der jede Operation ausführen konnte. Die schon zu seiner Zeit langsam einsetzende Spezialisierung seiner Zunft lehnte er vehement ab. Deshalb haben wir ihm auch auf zwei Gebieten bahnbrechende Entwicklungen zu verdanken, die heute recht weit voneinander entfernte Spezialdisziplinen sind: bei der Thorax-Chirurgie und der Prothetik.††

2.1 Die Thorax-Chirurgie

Der in Breslau tätige Prof. Dr. Johann von Mikulicz-Radecki erkannte Sauerbruchs Talent und holte ihn 1903 an die Breslauer Chirurgische Universitätsklinik. Während eines Gesprächs lenkte er den Blick des jungen Chirurgen auf das Problem der Brustraum-Chirurgie. Professor von Mikulicz erweiterte dieses Thema und brachte es in Zusammenhang mit der Lungentuberkulose. Ich vergesse nie einen Satz, den er sprach: ‚Hunderttausende von Menschen gehen an Lungentuberkulose zugrunde, nur weil man im Brustkorb nicht operieren kann.‘ … Als er merkte, daß ich mich mit diesem Problem eingehend befaßt hatte, drückte sein Gesicht Zufriedenheit aus, und er entließ mich mit der Mahnung, die Ausarbeitung einer Thorax-Chirurgie sei das hervorstechende Problem der ärztlichen Kunst unserer Zeit. Man habe gelernt, die Bauchhöhle zu öffnen, und so müsse sich doch auch eine Möglichkeit finden lassen, in den Brustkorb vorzudringen. (1)

Das Problem der Thorax-Chirurgie liegt darin, dass der Mensch über eine sogenannte Unterdruckatmung verfügt. Das bedeutet, dass ähnlich wie bei einer Saugpumpe die Luft in die Lungen gesogen wird. Die Lungenflügel sind von einer schützenden Haut, dem sogenannte Lungenfell (Pleura visceralis), umgeben. Das Lungenfell und das innen auf dem Brustkorb und dem Zwerchfell liegende Brustfell (Pleura parietalis) sind für die Funktion der Atmung von entscheidender Bedeutung. Beide Felle kleben durch einen Flüssigkeitsfilm wie zwei Glasplatten aneinander. Durch diesen Flüssigkeitsfilm zwischen den Fellen (Pleurahöhle/-Spalt) ist gewährleistet, dass sich Lungen- und Brustfell ohne Probleme gegeneinander verschieben lassen. Bewegt sich nun das Lungenfell durch Heben des Brustkorbes, zieht es das Brustfell mit sich. Dadurch wird ein Unterdruck erzeugt und Luft in die Lunge gesogen.

Dieses ausgeklügelte System behindert aber auch den Chirurgen in seiner Arbeit. Wird dieser Unterdruck durch eine Verletzung oder einen chirurgischen Einschnitt aufgehoben, kommt es zu einem sogenannten Pneumothorax. Hierbei dringt Luft in den Pleuraspalt ein, der dort eigentlich herrschende Unterdruck gleicht sich dem Umgebungsdruck an, wodurch die Lunge zusammenfällt und die Atmung massiv behindert wird.

Sauerbruch stand nun vor der Aufgabe, ein Verfahren zu entwickeln, diesen Unterdruck während einer Operation zu erhalten und so das Zusammenfallen der Lunge zu verhindern. Er ermöglichte dies 1904 durch die Konstruktion einer Unterdruckkammer, die er zusammen mit Mikulicz-Radecki entwickelte. Der Patient lag mit dem Kopf außerhalb dieser Kammer, während sich der Körper darinnen befand. In der Kammer herrschte ein Unterdruck von einem Zehntel des normalen Luftdrucks (ca. einhundert hPa). So konnten in der Unterdruckkammer die Chirurgen den Brustkorb öffnen. Sauerbruch nannte dieses Meisterstück das „Druckdifferenzverfahren“.

Weiterentwickelt wurde es durch den Internisten Ludolf Brauer, der mittels Intubation und geringem Überdruck die Lunge von innen heraus stabilisierte, die sogenannte „CPAP-Beatmung“. Aus dieser Unterdruckkammer heraus wurde übrigens auch die „Eiserne Lunge“ konzipiert, die bei so vielen Polioerkrankten zum Einsatz kam.

„Der Spiegel“ beschreibt den Moment, in dem Sauerbruch seine große Entdeckung machte, etwas launig (und historisch wahrscheinlich nicht ganz korrekt) so: Sauerbruch hatte Nachtdienst. Er ging ins Labor, zerschlug ein paar Glashafen, bis er endlich in einen die richtigen Löcher geschlagen hatte, setzte ein Kaninchen hinein, ließ eine Öffnung mit einem Gummischlauch und ebenso eine Öffnung für seine Hände luftdicht machen. Der Labordiener saugte mit dem Schlauch einen Teil der Luft aus dem Hafen. Dann schnitt Sauerbruch dem Versuchskarnickel den Brustkorb auf. Das berühmte Unterdruck-Verfahren, auf dem die gesamte moderne Lungenchirurgie basiert, war gefunden. Als Sauerbruch am nächsten Morgen seinem Professor die neue Methode vorführen wollte, setzte die Atmung bei dem Versuchskarnickel aus. Sauerbruch entdeckte erst hinterher, daß der Luftschlauch undicht gewesen war, da hatte ihn Mikulicz bereits als Scharlatan und Schwindler hinausgeschmissen.(7)

Darstellung der Unterdruckkammer aus einem zeitgenössischen Lehrbuch.

Die erste Vorführung dieser Methode in der Fachwelt geriet allerdings zum Fiasko. Eine Patientin mit Speiseröhrenkrebs sollte erstmals in der Druckkammer operiert werden. Die Fachwelt war eingeladen und alles, was Rang und Namen in der Chirurgie hatte, saß auf den Zuschauerbänken. Die Patientin starb jedoch während der Operation; eine Manschette war zu stramm gespannt worden und riss während des Eingriffs. Entgegen zahlreicher anderslautender Meldungen war die Patientin übrigens über die Tragweite der Operation voll aufgeklärt worden. Da sie aber ohne den Eingriff ohnehin nur noch eine kurze Lebensdauer gehabt hätte, hatte sie eingewilligt. Zeugenaussagen von Assistenten und Pflegerinnen, die bei den Gesprächen anwesend waren, belegen dies.

Sauerbruch fand eine zweite Patientin mit ähnlicher Symptomatik, die in diese Operation einwilligte. Und diesmal gelang der Eingriff grandios! Die Patientin überlebte, und Sauerbruch war der Held der Stunde.

Das von Sauerbruch inaugurierte Druckdifferenzverfahren war in seiner praktischen Handhabung nach dem Überdruckprinzip zusammen mit früheren physiologischen und klinischen Vorarbeiten über die künstliche Lungenventilation eine Stufe auf dem Weg zur intratrachealen Narkose, die ihre Perfektion erst nach dem Zweiten Weltkrieg gewann. Bis dahin dominierte in der Thoraxchirurgie allgemein die Überdrucknarkose, die Sauerbruch bei seiner thoraxchirurgischen Pionierarbeit benutzte. Nach seinem Tode nahm die Chirurgie des Herzens und der thorakalen Gefäße eine höchst erfolgreiche Entwicklung, während die Lungentuberkulose kaum noch chirurgische Bedeutung hat. (8)

Sauerbruch unternahm zahlreiche Vortragsreisen bis in die USA, bei denen er seine neue Methode vorstellte.

2.2 Prothetik

Ferdinand Sauerbruch hatte sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges freiwillig gemeldet und diente in verschiedenen Lazaretten. Dort lernte er zahlreiche Soldaten kennen, denen Hände bzw. ganze Unterarme weggerissen worden waren.

Für diese Soldaten entwickelte er den sogenannten „Sauerbruch-Arm“. Ergänzt wurde der Sauerbruch-Arm durch die von Jakob Hüfner entwickelte Handprothese. Mit diesen beiden Prothesen konnten die Träger die Finger gezielt bewegen und dadurch nochmals in das Berufsleben integriert werden.

Während der dafür erforderlichen Operation wurde durch das Muskelfleisch des Armstumpfes ein mit Haut ausgekleideter Kanal gelegt, in den ein Bolzen eingebracht wurde. Hierdurch wurden die Kontraktionen des Muskels auf die Prothesen übertragen. Zwei Aspekte verhinderten allerdings eine weitere Verbreitung: Einerseits die hohen Kosten und andererseits die Entzündungsanfälligkeit des Hautkanals.

Der Sauerbruch-Arm, ergänzt mit der Hüfner-Hand.

Der Chirurg und Medizinhistoriker Walter von Brunn, der gegen Ende des Ersten Weltkrieges seinen rechten Arm verloren hatte, begab sich in die Behandlung von Sauerbruch und beschreibt den Ablauf der Behandlung so: Vier Wochen Vorbehandlung mit Stumpfübungen, Massage und passiven Bewegungen. Dann wird operiert. Nur einmal, wenn z. B. ein guter Oberarmstumpf vorhanden ist. Zweimal in 4wöchigem Abstand, wenn eine Stumpfplastik erforderlich ist. Zwischen den Operationen finden stets gymnastische Übungen statt. Nach völliger Heilung wird zur Prothese Maß genommen, die im allgemeinen nach 3 Monaten erhältlich ist. In der Zwischenzeit werden die Hautkanäle durch Zugübungen abgehärtet und die Muskelstümpfe dadurch gekräftigt. Das Einüben mit der Prothese dauert ungefähr zwei Wochen. Amputierte, die ihre Muskeln wie früher physiologisch gebrauchen, können ihre Prothese sofort betätigen. (10)

Einer seiner Patienten war der 2013 verstorbene Kunstmaler und Bildhauer Hubert Weber, der im Krieg beide Hände verloren hatte. Er wurde innerhalb eines Jahres zehnmal operiert, wobei Sauerbruch alle wichtigen Operationen selbst ausführte. Dabei wurde der linke Oberarm auf einer Länge von 17 cm mit dem halben Schienbein überspannt. Eine erfolgreiche Überspannung in dieser Größenordnung war zur damaligen Zeit eine einmalige Leistung. Nachdem zuerst der rechte Arm so weit wiederhergestellt war, dass Hubert Weber eine willkürlich bewegliche Sauerbruch-Prothese tragen und bedienen konnte, begann er zu zeichnen. Sauerbruch war von seinen Federzeichnungen beeindruckt und nahm seinen Patienten häufig mit in den Hörsaal, wo er ihn seine neu erworbenen Fähigkeiten demonstrieren ließ. Als der noch schlimmer verletzte linke Arm wieder so weit hergestellt war, dass Hubert Weber auch links eine willkürlich bewegliche Sauerbruch-Prothese tragen konnte, begleitete er Sauerbruch auf Kongresse, um dort seine Bewegungsmöglichkeiten mit den neuen Händen zu demonstrieren. Sauerbruch erkannte das Talent und auch die Beharrlichkeit Hubert Webers und riet ihm, Kunst zu seinem Beruf zu machen. Mit Sauerbruchs Hilfe konnte Weber bereits während der Heilung an der Reimannschule in Berlin einen Einführungskurs als Vorbereitung für sein späteres Kunststudium absolvieren. Nach seiner Entlassung aus der Charité fertigte Hubert Weber ein erstes Porträt von Sauerbruch an und überreichte es ihm im Hörsaal. (9)

Eine weitere große Leistung auf dem Gebiet der Prothetik war die sogenannte „Umkipp-Plastik“. Sauerbruch wurde während seiner Sprechstunde von einem jungen Schmied aufgesucht, der ein lebensbedrohendes Oberschenkelsarkom hatte. Nun sollte ihm das Bein von der Hüfte ab amputiert werden. Der Schmied wandte sich mit der Hoffnung auf eine andere Möglichkeit an Sauerbruch, konnte er doch mit einem amputierten Bein seinen Beruf nicht mehr ausüben und seine Familie nicht mehr ernähren.

Bei dieser osteoplastischen Operation wird der von einer bösartigen Knochengeschwulst befallene Oberschenkelknochen im Hüft- und Kniegelenk exartikuliert. Er wird ersetzt durch den unter Erhaltung der Gefäße und Nerven um 180° gedrehten gesunden Unterschenkelknochen, nachdem der Fuß abgesetzt worden ist. Das körperferne Stumpfende wird in das Hüftgelenk eingestellt und der Schienbeinkopf zur Belastungsfläche umgebaut. (6)

2.3 Weitere Leistungen

Wie bereits eingangs erwähnt, hielt sich Ferdinand Sauerbruch immer zugute, einer jener Chirurgen zu sein, die jede Operation ausführen konnten.

So operierte er als Erster erfolgreich ein von Kalkschichten umlagertes „Panzerherz“, indem er den einengenden Kalkmantel herauslöste und dem Herzen wieder Bewegungsraum verschaffte.

Auch die erste erfolgreiche Operation eines Herz-Aneurysmas gelang ihm.

Für die chirurgische Behandlung der Lungentuberkulose entwickelte Sauerbruch neue Operationstechniken. Und er war auch der Erste, der einen akuten Stress als Auslöser von Morbus Basedow sah.

Weiters forschte er in der Parabiose, der ‚künstlichen Verbindung von Tieren‘. Diese Forschungen sind Vorläufer der heutigen Organtransplantation.

2.4 Sauerbruch und der Nobelpreis

Nicht unerwähnt darf bleiben, dass Ferdinand Sauerbruch für sein Wirken insgesamt 65 Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Erhalten hat er ihn nie. Nur der Bakteriologe Emile Roux wurde mit 120 Nominierungen öfter genannt und hat den Preis auch nie erhalten.

Sauerbruch bei einer Vorlesung in Zürich.

1937 war es unter anderem der Breslauer Gynäkologe Schultze-Rhonhof, der Sauerbruch nominierte. Er begründet dies wie folgt: Wenn laut Statuten der Nobelstiftung der Preis des jeweiligen Fachgebietes der Persönlichkeit zuzuerkennen ist, die der Menschheit durch ihre Tat grössten Nutzen gebracht hat, dann wird dieser Forderung nicht nur im vollsten Ausmass, sondern wohl auch in erster Linie Geheimrat Professor Dr. Sauerbruch gerecht. Sauerbruch gehört zu den ganz überragenden Persönlichkeiten der Medizin, die sich durch ihr Werk unvergängliche Verdienste erworben und in ihnen ein bleibendes Denkmal gesetzt haben. In Sauerbruch vereinigen sich der geniale Arzt und Wissenschaftler, ja in ihm verkörpert sich der schöpferische Arzt schlechthin, der durch wahrhaft medizinische Grosstaten für die Menschheit unendlichen Segen gestiftet hat. […] Sauerbruchs Verdienste sind einmalig, und seine Erfindungen, vor allem das Druckdifferenzverfahren, haben der Menschheit in der Tat zum allergrössten Nutzen gereicht. Sauerbruch gebührt daher die hierfür höchste Auszeichnung der Wissenschaft, der Nobelpreis für Physiologie und Medizin. […] Wegweisend sind seine Versuche der Tuberkulosebehandlung mit bestimmten Kostformen, besonders bei der Knochen- und Gelenktuberkulose und bei der Behandlung des therapeutisch so schwer erfassbaren Lupus. Die Sauerbruch-Hermannsdorfersche Diät ist hierbei fraglos von souveräner Bedeutung. (11)

Die Medizinwissenschaftler Nils Hansson und Udo Schagen kommen nach ausführlicher Betrachtung zu folgender Erkenntnis: Die ausschlaggebenden Gründe dafür, dass Sauerbruch trotz der weit überdurchschnittlichen Anzahl an Nominierungen letztlich doch nicht als preiswürdig angesehen wurde, waren, wie aus den zitierten Gutachten eindeutig hervorgeht, dass seine von der Chirurgenwelt als bahnbrechend angesehenen Leistungen letztlich nicht als originell genug eingestuft werden konnten und er damit das wichtigste Vergabekriterium für die Verleihung des Nobelpreises für Medizin und Physiologie nicht erfüllte. Wenn wir dies feststellen, so maßen wir uns damit allerdings nicht an zu behaupten, dass dieses ,,wichtigste Kriterium‘‘ immer und bei allen Verleihungen eingehalten worden ist. (11)

Danksagung
Ich danke ganz herzlich Herrn Dr. André H. Müller, der diesen Artikel als Chirurg gegengelesen und produktive Anmerkungen gemacht hat. Hab vielen lieben Dank!

Beitragsbild: http://galleria.thule-italia.com/?lang=de
Die restlichen Bilder stammen von den WikiCommons.