Kluges von Salman Rushdie

Salman Rushdie in seiner Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels:

Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt habe, sie erleben zu müssen, eine Zeit, in der die Freiheit – insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe – auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen, halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird, eine Zeit, in der sich Bildungseinrichtungen und Bibliotheken Zensur und Feindseligkeit ausgesetzt sehen; in der extremistische Religionen und bigotte Ideologien beginnen, in Lebensbereiche vorzudringen, in denen sie nichts zu suchen haben. Und es gibt sogar progressive Stimmen, die sich für eine neue Art von bien-pensant Zensur aussprechen, eine Zensur, die sich den Anschein des Tugendhaften gibt und die viele, vor allem junge Menschen, auch für eine Tugend halten. Von links wie rechts gerät die Freiheit also unter Druck, von den Jungen wie den Alten. Das hat es so bislang noch nicht gegeben und wird durch neue Kommunikationsformen wie das Internet noch komplizierter, da gut gemachte Webpages mitsamt ihren böswilligen Lügen gleich neben der Wahrheit stehen, weshalb es vielen Menschen schwerfällt, das eine vom anderen zu unterscheiden. Außerdem wird in unseren sozialen Medien Tag für Tag die Idee der Freiheit missbraucht, um dem Mob online das Feld zu überlassen, wovon die milliardenschweren Besitzer dieser Plattformen profitieren und was sie zunehmend in Kauf zu nehmen scheinen.

Was aber tun wir in Sachen Meinungsfreiheit, wenn sie auf derart vielfältige Weise missbraucht wird? Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann. Wir müssen sie erbittert verteidigen und sie so umfassend wie möglich definieren, was natürlich heißt, dass wir die freie Rede auch dann verteidigen, wenn sie uns beleidigt, da wir die Meinungsfreiheit sonst überhaupt nicht verteidigen würden. Verlegerinnen und Verleger gehören zu den wichtigsten Wächtern der Meinungsfreiheit. Danke für eure Arbeit und bitte, wenn dies überhaupt geht, dann macht sie noch besser, seid noch tapferer und lasst tausend und eine Stimme auf tausend und eine verschiedene Weisen sprechen.

Quelle: https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2020-2029/salman-rushdie

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Salman Rushdie in einem aktuellen Interview mit dem Spiegel:

»Die Verteidigung der Meinungsfreiheit beginnt dort, wo sie sich für Leute einsetzt, mit denen sie nicht einer Meinung sind.«

SPIEGEL: Sagen Sie das auch den Studenten?

Rushdie: Ich sage ihnen: Es bedeutet rein gar nichts, für die freie Rede von Leuten einzutreten, mit denen sie einverstanden sind. Die Verteidigung der Meinungsfreiheit beginnt dort, wo sie sich für Leute einsetzt, mit denen sie nicht einer Meinung sind. Und das ist nur der Anfang. Der eigentliche Kampf wird dort geführt, wo sie Leute verteidigen, deren Meinung sie sogar verabscheuen.

SPIEGEL: Sie empfehlen also Voltaire, der gesagt haben soll: »Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.«

Rushdie: Exakt. Mit der kleinen Einschränkung, dass Voltaire das nie gesagt hat. Aber ja. Nun muss ich es mit meinen eigenen Worten einer jungen Generation beibringen, die nicht mehr an die freie Rede glaubt und Säuberungen befürwortet. Und das in einem Land, in dem das Recht darauf im ersten Verfassungszusatz verbrieft ist. Es wächst eine Generation heran, die in Empörung und Gekränktheit ihre zentralen Konzepte gefunden hat. Eine Generation, die es sich unendlich leicht macht.

SPIEGEL: Inwiefern?

Rushdie: Insofern es viel bequemer ist, jemandem zum Schweigen zu bringen, als ihn zu konfrontieren und argumentativ zu überzeugen. Die Universität sollte ein Ort bleiben, an dem junge Menschen herausgefordert werden müssen. Meine eigenen Grundsätze werden dort jeden Tag herausgefordert!

Quelle (Paywall): https://www.spiegel.de/kultur/literatur/salman-rushdie-es-waechst-eine-generation-heran-die-es-sich-unendlich-leicht-macht-a-f94f3c43-b874-4c27-99c7-c4290da5ec9d

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Beitragsbild: CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4815485

4 Gedanken zu “Kluges von Salman Rushdie

  1. Lieber Onkel, du bist eine wichtige Stimme im Internet. Wäre schön, dich auch auf Mastodon und/oder Bluesky zu finden. Twitter und Facebook boykottiere ich inzwischen konsequent, aus Gründen.

  2. Zugegeben, man (ich) muss sich (mich) bei diesem Text schon etwas anstrengen und konzentrieren, evtl. die eine oder andere Stelle zweimal lesen. Es lohnt sich aber auf jeden Fall.
    Grüße
    Matthias

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