Von heißen Herdplatten

Beschäftigt man sich mit Dingen wie Traditionen oder Geschichte, gerät man – gerade heutzutage – schnell auf dünnes Eis. Denn leider ist es in unserer ach so „moralischen“ und „wertschätzenden“ Zeit so, dass die Schreier und Pöbler den Diskurs übernehmen und die vernünftigen, fachlich fundierten Stimmen leider viel zu oft untergehen. Gerade in den asozialen Medien ist es gerne so, dass jeder meint, bei jedem Thema mitreden zu können.

Und so sitzt man in hier in Mitteleuropa in Sicherheit und (zuviel) Wohlstand zu Hause gemütlich auf der Couch, mit Chips und Bier/Cola in Reichweite, schaut eine oberflächliche Dokumentation auf irgendeinem der überzähligen TV-Sender oder bei Youtube und ist viel zu schnell damit bei der Hand, knallharte Urteile aus eben jener bequemen Position zu fällen.

Wie ein römischer Gottkaiser thront man auf vorgenannter Couch und gibt dickfellig den Daumen nach oben oder nach unten und urteilt so über historische Ereignisse und Personen. Kein Gedanken wird an die Lebensumstände unserer Vorfahren (und wenn ich von „unseren Vorfahren“ spreche, dann meine ich das global, denn spontan fällt mir außer den Troglodyten, Skiapoden und Acephalen kein Volk ein, das nicht irgendwann mal Scheiße gebaut hat) verschwendet, sondern nur von unserer freien Gegenwart ausgegangen, in dem Informationen aus allen Erdteilen in Sekundenschnelle zur Verfügung stehen.

So ist es in den asozialen Medien ein schöner Brauch, dass beispielsweise zum Jahrestag des Attentates auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 herzhaft auf die Widerständler, allen voran Claus Graf Schenk von Stauffenberg, eingedroschen wird. Denn ihr Fehler war, dass die Vorstellungen, die sie von einem Deutschland nach Hitler nicht mit dem übereinstimmen, was heute politisch opportun ist. Und dieser Stauffenberg erst, denkt mal, der hat ja Hitler erst verehrt! Also war er ja auch ein Nazi. Da kann man ihn doch nicht als Vorbild nehmen. Nä, wo kämen wir denn da hin, wenn jetzt plötzlich jeder anfangen würde, sich und seine Ansichten zu reflektieren, darüber nachzudenken und Irrtümer einzusehen. Nein! Meinungen sind ein für alle Mal festzementiert. Sonst könnte man die Menschen doch nicht in Schubladen stecken und DAS(!) das ist anscheinend das Wichtigste heutzutage.

Nur der Vollständigkeit halber meine unmaßgebliche Meinung dazu: selbst wenn Stauffenberg ein bezahlter Auftragskiller wie Giuseppe Greco von der Cosa Nostra gewesen wäre, hätte er unsere Hochachtung verdient, weil er – als einer der Wenigen – dazu bereit war, sein Leben in die Waagschale zu werfen, um das von anderen zu retten und schlussendlich hat er es hierdurch auch verloren. Eine Welt, wo so etwas nicht mehr zählt, hat sich selbst den moralischen Bankrott erklärt.

Lieber wird stattdessen ein arrogantes und selbstgerechtes „ICH hätte damals NIE mitgemacht! ICH wäre im Widerstand gewesen!“ Einen Scheiß hättest Du, also hock Dich wieder auf Deine Couch und halt die Klappe.

Was Menschen, die solche Aussagen tätigen nicht bedenken ist, dass sie selbige mit ihrem heutigen Wissenstand tätigen und sich absolut nicht in die Menschen und deren Lebensumstände der damaligen Zeit hineinversetzen können. Natürlich, wer sich heute mit all dem Wissen, das wir in den letzten 80 Jahren seit Kriegsende angehäuft und vermittelt haben noch immer dazu entschließt, ein Nazi zu sein, der ist ein Arschloch Punkt aus.

Aber wenn Du 1921 geboren wurdest, in einem Kaff im Bayrischen Wald, im Wendland oder droben in Ostpreußen, beim Deibl uff der Renn, wo es nur ein, maximal zwei Zeitungen gab, dazu den Amtsboten und das Kirchenblättchen, wo die nächste Bibliothek in der Kreisstadt war, wo man nur einmal im halben Jahr hinkam, und wo Dein alltäglicher Aktionsradius allerhöchstens vielleicht 20 Kilometer betragen hat und wo der „Volksempfänger“ das Tor zur Welt war“, da sieht das schon etwas anders aus. Das wird aber ausgeblendet, weil es ja viel mehr Spaß macht, Menschen einfach Stempel aufzudrücken und auf diejenigen, die sich nicht wehren können einzudreschen.

Wobei ich hier tatsächlich niemand in Schutz nehmen und nichts relativieren möchte. Ich möchte nur dafür sensibilisieren, dass wir frühere Ereignisse – egal welcher Epoche – nicht mit den Maßstäben unserer wohlstandsverwahrlosten Zeit bewerten und verurteilen dürfen.

Was mich die Beschäftigung mit unserer Geschichte gelehrt hat sind zwei Dinge: Demut und Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass ich in der heutigen Zeit mit ihrer fast unbegrenzten Freiheit, mit ihren Informationsmöglichkeiten, mit ihrer Technik, mit ihrer medizinischen Versorgung und all den anderen Annehmlichkeiten lebe und Demut gegenüber unseren Vorfahren, die ihr Leben in so viel härteren Umständen bestreiten mussten.

Wobei ich mich hier sicher nicht als Vorbild oder moralischen Leuchtturm in Szene setzen möchte. Wer mich kennt, der weiß, dass ich für einiges geeignet bin, aber weder um als Vorbild noch als moralischen Leuchtturm hergenommen zu werden. Vielleicht als abschreckendes Beispiel, aber mehr auch nicht.

Aber kommen wir zurück zum Thema.

Es gibt ja diese romantische Vorstellung der Geschichte als unsichtbaren Heerzug der früheren und der gegenwärtigen Generationen, überragt von den toten Helden und Königen, mit einer verklärten Vorstellung von gotischen Kathedralen, edlen Frauen, Rittern, Kreuzzügen und Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser, als große Erzählung der Geschichte.

Gut, diese Vorstellung mutet auf dem ersten Blick ein bisschen kitschig an, vor allem für unsere heutigen voll coolen und abgeklärten Augen, aber ich finde das Bild passend, denn es zeigt uns eine der großen Chancen auf, die wir als Menschheit noch immer viel zu wenig ergreifen: aus der Geschichte zu lernen.

Der Physiker und Philosoph Gerhard Vollmer hat einmal treffender Weise festgestellt „Wir irren uns empor“, was bedeutet, dass wir aus Fehlern lernen und dadurch eine Stufe weiter in der geistigen Entwicklung kommen. Allerdings ist davon relativ wenig zu bemerken. Viel eher erinnert mich die Menschheit an Homer Simpson, der dreimal kurz hintereinander auf die heiße Herdplatte fasst.

Dabei haben wir doch die Chance, aus den Fehlern zu lernen, die die Generationen vor uns begangen haben oder aus den Einsichten, die sie gewonnen haben. Denn unsere Vorfahren waren weder dümmer noch gescheiter als wir heute, sie hatten aus ihren Lebensumständen heraus nur einen anderen Blickwinkel auf die Welt.

Also lernen wir doch aus diesem unsichtbaren Zug vieler Generationen, der irgendwo beginnt mit den Männern, die ihre Stämme gegen feindliche Einfälle verteidigten, und ihre Ungeschlachtheit im Kontrast zu den neben ihnen reitenden eleganten Höflingen der staufischen Zeit, irgendwo im Zug der einäugige Oswalt von Wolkenstein, sich immer weiter zankend mit der Margarete Maultasch, Mönche und Handwerker und geflohene Leibeigene, die nach Osten gingen, um das Land urbar zu machen, und weiter die Bauern unter dem Bundschuh und Luther mit dem September-Testament in der Hand, die Hugenotten in der Mark, Maria Theresia und Friedrich der Große, und Leibniz und Mozart und Goethe, und Stürmer und Dränger und Werthergestalten und Theodor Körner singend zu Pferde und die Barrikadenkämpfer von ’48, Siemens und Krupp und Lassalle und Marx und Engels und selbstverständlich Bismarck, und Trakl und Klee und Nolde und die Bürgerkrieger und Krieger dieses blutigen Jahrhunderts, und welche in Häftlingskleidung mit dem gelben Stern und junge Frauen, die die Trecks aus dem Osten führten und Soldaten, die die Trecks deckten und Tresckow und Stauffenberg und irgendwo weit vorn im Zug die Arbeiter des 17. Juni, daneben die Montagsdemonstranten aus Leipzig und irgendwo wir, die heute leben und über die, wenn es soweit ist, auch der Stab gebrochen wird. Ob wir auf Gnade hoffen dürfen?

2 Gedanken zu “Von heißen Herdplatten

  1. Das mit dem Kontext und der Differenzierung ist immer schwierig. Die Attentäger des 20. Juli sind ja auch nicht die Helden, als die sie mitunter früher dargestellt wurden (heute ist man da meiner Wahrnehmung nach wirklich differenzierter).

    Das schmälert aber auch eben nicht ihren Versuch, dem Morden Einhalt zu gebieten.

  2. Vor gut 25 Jahren, wir waren fortgeschrittene Gymnasiasten, wohlstandsverwahrlost und weiß (mit anderen Worten: genauso privilegiert, wie die heutigen Moralapostel), da saßen wir bei Alkohol, Zigaretten und Marihuana (jaja, solche Zeiten waren das) auf einer Party auf dem oben angesprochenen Sofa und philosophierten über „Dreiundddreißig bis Fünfundvierzig“. Und irgendwann stellte jemand von uns bedripst fest: „Wir wären alle Mitläufer gewesen!“ Worauf sich kein Widerspruch erhob.

    Bleibt zu hoffen, daß diese Erkenntnis von damals sich in unseren Hirnen festgesetzt hat. Und daß manche der Leute, die heute auf einem ganz hohen Roß sitzen, auch noch zu ihr gelangen.

    Daher: Danke von Herzen für den notwendigen Zwischenruf!

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