Zur Anatomie des gemeinen Shitstorms

~~~~~ Disclaimer ~~~~~

Der nachfolgende Artikel resultiert aus meinen persönlichen Erfahrungen, die ich seit acht Jahren und mit zwei Accounts auf Twitter machen konnte/durfte/musste. Außerdem kann ich mich auf zahlreiche Gespräche mit anderen Twitterern stützen, die mir ihre Erfahrungen zum Thema ebenfalls erzählt haben. Aktuelle Vorkommnisse oder Personen sind nicht gemeint. Also, wenn DU Dich angesprochen fühlst: beruhige Dich, Du bist nicht gemeint, aber vielleicht solltest Du mal ganz generell über Dein Verhalten in den sozialen Netzwerken nachdenken, denn nur getroffene Hunde bellen. Außerdem darf ich feststellen, dass bei der Produktion des Artikels keine Tiere zu Schaden gekommen sind.

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Ja, Marc-Uwe Kling hat Recht, wenn er in seinen Känguru-Chroniken von den „Asozialen Netzwerken“ spricht und das Känguru hat Recht damit, flugs ein solches in der Realität zu gründen. Nein, bewegt man sich heute bei Twitter oder Facebook, so kommt einen in regelmäßigen Abständen der Mageninhalt hoch und man möchte sich in die Rabatten speien.

Wobei man ja sagen muss, dass es – für einen Außenstehenden – schon recht interessant ist, einem der alltäglichen Shitstorms dort zuzusehen. Shitstorm ist übrigens ein guter Begriff, genauso eklig, wie ein Zimmer danach aussieht, wenn man Scheiße in einen laufenden Ventilator wirft, ist ein solcher Vorgang.

Schauen wir uns einen solchen Vorgang doch einmal näher an.

Was brauchen wir denn alles zu einem Shitstorm. Erstmal eine Gruppe von Menschen. Das können Menschen gleicher politischer Überzeugung, gleicher Religion, gleicher Beeinträchtigung, gleicher Krankheit etc. sein, das ist ganz egal. Dann brauchen wir eine abweichende Meinung von dem, was die Gruppe sagt. Thema ist egal, auch wenn der-/diejenige sonst zu 99,9% mit der Gruppe übereinstimmt, ist das egal. In dem Moment stellt er sich gegen die Gruppe und wird damit zum Paria. Möglichkeit 2 ist, dass diese abweichende Meinung oder These von außen in die Gruppe getragen wird. Im Endeffekt ist es aber egal, von wem diese abweichende Meinung geäußert wird, die danach ablaufenden Mechanismen sind gleich.

Als erstes wird die ganze Sache auf die persönliche Ebene geholt, damit man emotional argumentieren kann. Das ist sehr praktisch, man kann den Gegner (und als solches wird jemand gesehen, der eine andere Meinung vertritt) nämlich viel besser attackieren und man braucht sich nicht mit so etwas Unwichtigen wie Fakten oder so Gedöns aufhalten.

Dann setzt man sich auf’s hohe moralisch Ross, weil man ist ja die „Opfer“-Seite. Man ist ja beleidigt o.ä. worden. Also bringt man sich fix in Stellung „Wir die Guten!“ gegen „Die Bösen!“ Nun braucht die Gruppe vor allem eines: Ausdauer! Denn nun laufen viele Stränge gleichzeitig ab.

Einmal muss man die Gegenseite piesacken bis zum geht nicht mehr. Immer wieder anschreiben, sinnlose Fragen stellen, Unterstellungen äußern etc. Hat man Glück, verliert dort jemand die Nerven und macht eine unüberlegte Äußerung. Dann muss man die natürlich als Screenshot sichern. Mit diesen Screenshots kann man dann die riesige Welle machen. Man kann andere aus der Gruppe des oder der Unglücklichen, der sich hat hinreißen lassen angehen oder was auch immer sehr beliebt ist: man kann auch dessen Follower angehen. So nach dem Motto: „Wollt ihr so einem Drecksack weiter folgen? Dann macht ihr euch mit dem gemein!“

Was auch wichtig ist für einen gelungenen Shitstorm: man muss kontrollieren, ob jemand die missglückte Äußerung geliked oder gar retweeted hat. Diejenigen Personen werden nämlich ebenfalls an den Pranger gestellt.

Übrigens ist es ganz egal, ob diese missglückte Äußerung ernst, humorig, ironisch, sarkastisch oder sonstwie gemeint war. Nein, jedes einzelne Wort muss auf die Goldwaage gelegt werden. Gut ist es auch, wenn man die Profile der Betreffenden durchschaut. Vielleicht hat ja jemand in der Vergangenheit einmal eine gewisse Bemerkung gemacht. Oder einen Tweet abgesetzt, der mit der aktuellen Sache nichts zu tun hat, aber darauf umgebogen werden kann. Und dann wieder Screenshots, Like-Scan etc. Die Parole heißt einfach: mürbemachen!

Was auch immer gut kommt ist, der Gegenseite eine Homogenität zu unterstellen. Also eine missglückte Aussage muss gleich global auf die gesamte Gruppe übertragen werden. Sehr gut kommt natürlich auch, wenn man irgendwo die Nazi-Keule ansetzen kann. Das ist schon ein kleiner Jackpot, denn dadurch bekommt man auch „Allies“ (also Alliierte, heißt Unterstützer, ich nenne solche Menschen gerne „Minions“), die mit der eigentlichen Sache nichts zu tun haben.

Macht die Gegenseite den Versuch, mit Fakten zu arbeiten, ist das natürlich doof. Denn Fakten bergen die Gefahr in sich, dass sie sich gegen einen wenden können und man „überführt“ wird, dass man falsch liegt. Deswegen muss man, wenn ein Thema zu heikel wird, schnell irgendeinen anderen Nebenkriegsschauplatz eröffnen. Am besten ist, wenn man mit möglichst vielen Themenbereichen jongliert, dann kann man die Gegenseite nämlich so richtig verwirren.

Man sollte auch früh genug dafür sorgen, dass man sich „Allies“ mit möglichst vielen Followern holt, denen das eigentliche Thema zwar am Arsch vorbeigeht, die aber ihre ganz eigenen Ziele verfolgen. Sei es Rache, sei es die tugendhafte Positionierung, sei es Selbstdarstellung. Vollkommen egal. Hauptsache sie sind gut vernetzt und haben den entsprechenden zahlenmäßigen Followerhintergrund. Diese Minions nun (sorry, aber ich finde den Begriff „Allies“ dermaßen bescheuert) können es sich an der Seitenlinie des Spielfeldes bequem machen und von Zeit zu Zeit Benzin ins Feuer gießen ohne, dass sie selber zu tief in die Materie einsteigen müssen. Und von deren tausenden von Followern sind sicherlich genügend doof genug, um auch mit einzusteigen, um ihren Idolen schön tief in den Arsch zu kriechen ääääähhh… Unterstützung zu geben. 

Währenddessen bietet bspw. Twitter noch eigene Möglichkeiten, die Gegenseite zu zermürben. So kann man unendliche Meldungen gegen die Profile der Gegenseite oder gegen einzelne Tweets loslassen. Ob die Meldungen berechtigt sind oder nicht: scheißegal, Hauptsache man kann seinem gegenüber tierisch auf den Zeiger damit gehen.

Schön ist es auch immer, jemanden zu blocken und dann quasi „hinter dem Block“ flammende Reden zu halten, Ultimaten zu stellen oder was weiß ich was auch immer zu fordern. Die geblockte Person kann – da sie nie etwas davon erfährt – natürlich auch nicht reagieren. Ganz großes Kino.

Man kann natürlich auch hergehen und die bisherigen Beiträge der Gegenseite durchgehen. Das ist gut, denn man kann dann auf der einen Seite Beiträge, die absolut nichts mit dem Shitstorm zu tun haben – und meist auch vollkommen harmlos sind – mit in die Sache reinziehen und uminterpretieren.

Ein Jackpot ist es natürlich, wenn man irgendwo auch nur den kleinsten Ansatzpunkt für die Nazi-Keule findet. Dann kann man auf die Gegenseite einschlagen wie Obelix auf die Römer mit dem Hinkelstein. Dabei ist es vollkommen egal, ob es berechtigt ist oder nicht.

Sollte sich jemand von der Gegenseite für eventuelle Ausrutscher entschuldigen und seinen Tweet löschen, so lässt ihn die Gruppe damit absolut nicht durchkommen. Egal, wie ernst die Entschuldigung gemeint ist, nie reicht sie. Es wird auf immer heftigere Unterwerfungsgesten gedrungen. Nie ist die Entschuldigung aufrichtig genug, nie form- und fristgerecht. Und dadurch, dass man ja genügend Screenshots angefertigt hat, kann man demjenigen immer und immer und immer und immer wieder diesen einen Tweet unter die Nase halte. Man selber generiert sich ja als die moralisch überlegene Instanz, die immer alles richtig macht und die reinste aller reinen Westen hat und deswegen darf man immer und immer wieder auf den Anderen einprügeln. Mit dem Screenshot kann man ihm immer wieder kujonieren. 

Wichtig ist, dass der Strom der Anschuldigungs-Tweets nie versiegt. Am besten ist für die Gruppe, dass bei jeder noch so kleinen Kleinigkeit, auch wenn sie mit dem eigentlichen Thema absolut nichts zu tun hat, auf den Gegenstand des Shitstorms zu verweisen und so das Wasser immer schön am köcheln zu halten.

In dem Moment trennt sich dann die Spreu vom Weizen. Manche Gruppen lassen dann von der armen Sau ab, die sie über Wochen hin durchs Dorf getrieben und denunziert haben und suchen sich ein neues Spielzeug, mit dem das ganze Brimborium wieder von vorne beginnt. Andere Gruppen aber hetzen ihr Opfer über jede Grenzen der Menschlichkeit hinweg. Gleich einem Hyänenrudel treiben sie die Gegenseite vor sich her, bis es für diese nur noch zwei Möglichkeiten gibt: Unterwerfung oder Untergang. Egal, was die arme Sau sonst alles geleistet oder gutes Getan hat. Man war in dieser einen Frage anderer Meinung und hat somit in den Augen der Gruppe seinen Untergang verdient.

Kennt ihr den Film Khartoum? Daran muss ich immer denken, wenn ich Shitstorms in ihrer Endphase sehe. Denn egal, ob die durchs Dorf getriebene Sau sich unterwirft oder untergeht, am Schluss ist es wie in der vorletzten Szene von Khartoum, wo die Mahdisten den abgeschnittenen Kopf von General Gordon Pasha durch die Straßen tragen und johlen.

Und das ist das perfide. Egal, was man sonst geleistet, wie sehr man sich ehrenamtlich engagiert hat, egal wieviel Stunden man in irgendein Projekt investiert hat, das zählt alles nicht mehr. Nein, man weicht nur 0,01% von der Gruppenmeinung ab und schon wird man drangsaliert wie ein Schwerverbrecher. Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen, werden gewaltsam herausgerissen, weil irgendwelche Gruppen meinen, sie müssten ihn gesellschaftlich und sozial ruinieren, weil … ja, weil dieser Mensch irgendetwas von sich gegeben hat, was der Gruppe nicht angenehm war/ist.

Ihr seht also, ein Shitstorm ist keine schöne Angelegenheit und er hat weitreichende Folgen, allerdings für beide Seiten. Aus so einer Sache kommt niemand unbeschadet heraus. Dabei ist vollkommen egal, ob man die Vorwürfe der „Treiber“ entkräften kann, egal ob man vollkommen unschuldig in die Situation geraten ist. Nein, irgendwas bleibt immer hängen, selbst dann, wenn die Gruppe weitergezogen ist und ein neues Opfer gefunden hat.

Und so komme ich auf folgenden Merksatz: Das auf Twitter herrschende System, dass die Gruppe, die am lautesten schreit und sich der brutalsten Methoden befleißigt, kann mit Fug und Recht als Ochlokratie bezeichnet werden.

Der brutale Umgang, der bei solchen Vorkommnissen im Internet an den Tag gelegt wird, mit diesem unbändigen Willen, jeden anderen, der nicht der eigenen Meinung ist, kaputt zu machen und in den Dreck zu treten, ja, die Gegenseite zu entmenschlichen und sie zu hetzen bis sie nicht mehr können, die finden leider oft genug auch ihren Weg in die reale Welt. Und dann, dann wird es erst so richtig schmutzig, denn dann kann neben der Lebensgrundlage auch die gesamte Existenz auf dem Spiel. Wer solche Methoden wie oben beschrieben an den Tag legt, ist skrupellos, charakterlos und dem ist alles zuzutrauen. Und die Shitstorms haben in den letzten acht Jahren auf jeden Fall an Brutalität zugenommen, waren sie früher unangenehm und lästig, sind sie heute einfach nur noch brutal und erbarmungslos. Und das ist eine Entwicklung, die mir maximal Sorgen macht!

Kann man sich dagegen schützen? Nein, leider nicht, denn egal zu welchem Thema man sich im Internet äußert, es wird immer Personen oder Gruppen geben, denen das nicht passt und die genau dich für diese Meinungsäußerung bestrafen wollen und einen Shitstorm vom Zaun brechen. Und wenn dann dutzende von Menschen auf dich einreden bzw. einschreiben und von dir Stellungnahmen, Entschuldigungen oder sonstige Äußerungen verlangen, ist alles zu spät, denn ein einzelner Mensch kann das auf keinen Fall stemmen.

Dabei ist für mich immer wieder interessant, mit welcher Selbstverständlichkeit solche Menschen davon ausgehen, dass man mit ihnen kommunizieren muss. Nein, einfach nein, niemand muss sich eine Diskussion aufzwingen lassen, niemand muss mit irgendwem kommunizieren. Niemand hat ein Anrecht auf deine Zeit und auf deine Aufmerksamkeit. Wenn man sich zu einem Thema nicht weiter äußern möchte, dann ist das vollkommen ok. Niemand soll zu einer Diskussion gezwungen werden, die nicht die seine ist, egal was die Gruppe auch immer glaubt.

Deswegen meine große Bitte an euch: Passt auf euch auf, gerade im Internet und besonders in den asozialen Netzwerken. Denn Phishing-Betrüger und ähnliche Hallodris haben es nur auf euer Geld abgesehen, solche Menschen wie oben beschrieben aber, die wollen euern Verstand und eure absolute Unterwerfung.

Lassen wir solche Menschen nicht gewinnen.

P.S. Nein, DU/IHR bist/seid noch immer nicht gemeint!

P.P.S. Ich schiebe die Veröffentlichung dieses Artikels ja schon eine ganze Zeit vor mir her, weil ich ja weiß, dass trotz allem irgendwelche Schiffschaukelbremser und Klosteinlutscher angaloppiert kommen und sich beschweren. Und durch den Blog hier können sich ja viele angesprochen fühlen, Homöopathen, Querdenker, Reichsbürger oder grönländische Bademeister. Nun gut, ich lasse es einfach drauf ankommen, klicke schnell auf „Veröffentlichen“ und verstecke mich für den restlichen Tag unter dem Tisch.

2 Gedanken zu “Zur Anatomie des gemeinen Shitstorms

  1. Das hätte ich nicht besser ausdrücken können.
    Als Mini-Account habe ich das noch nicht erleben müssen, außer in einem sehr kleinen Rahmen, wo ich dann aufgab und meinen pöhsen Tweet einfach gelöscht habe.
    Auf Anfeindungen gehe ich auch nicht mehr ein, ich ignoriere sie einfach (nichts ärgert solche Leute mehr) und wenn es zu viel wird, blocke ich.
    Ich habe nichts gegen eine gute Streitkultur und fetze mich auch gerne mal, aber gegen diese Honks kommt man nicht an.

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