Gelesen: Mukerji, Nikil/Mannino, Adriano: Covid-19: Was in der Krise zählt – Über Philosophie in Echtzeit

Ich muss ja ehrlich gestehen, dass ich mit der aktuellen Philosophie so meine Probleme habe. Wahrscheinlich habe ich einfach zu oft im TV Sloterdijk auf einem Sofa lümmeln und über die Elemente der Theopoesie oder ähnlichen Schotter reden hören. Spätestens nach dem dritten Satz denke ich mir bei sowas „Wat will der Kerln denn von mir?“. Glücklicherweise weiß ich aber, dass es ein Gegengewicht für lebende Schnauzbärte mit Sprechdurchfall gibt.

Dazu gehört der von mir hoch geschätzte Nikil Mukerji, der mit seinem Buch „Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstand“ meinen Glauben in die Philosophie der Gegenwart wieder hergestellt hat. Und eben jener Mukerji hat nun gemeinsam mit Adriano Mannino ein schlankes Büchlein verfasst, das uns helfen kann, die aktuelle Corona-Krise zu meistern.

Schauen wir uns mal an, was die beiden Herren uns zu erzählen haben.

Das Buch beginnt mit einer Rückschau über den Beginn der Epidemie in China und dem übergreifen auf Italien. Mukerji und Mannino sehen diese Zeit besonders unter dem Schlagwort der Risikoabsicherung bzw. der Risikoethik.

Auch das Überschwappen auf und die Verbreitung des Virus in Deutschland wird aufgezeigt. Angenehm ist, dass Fachbegriffe erläutert werden. Aber auch die beteiligten Personen aus Politik, Forschung und Medizin, deren Bedeutung und der Umgang der Öffentlichkeit mit ihnen wird aufgezeigt. Und hier sieht man eines der großen Probleme der vergangenen Monate. Während Politik, Medien und Bevölkerung nach harten Fakten verlangten, konnte die Expertenschaft diese nicht liefern, weil die ganze Situation, das Virus und sein Verhalten einfach zu neu waren. So kam es dazu, dass sich die Forscher irrten (ja, auch das dürfen sie) und die Medien hieraus ein Drama machten oder dass der jeweilige Erkenntnisstand hypothetisch war. So oder so, dem Drängen der Öffentlichkeit konnte nicht nachgegeben werden.

In dieser Situation wird dann die aufgezeigt, wie die Philosophie quasi als Mittler zwischen dem Lager der Forschung und Wissenschaft auf der einen und dem Lager von Medien, Bevölkerung und Politik auf der anderen Seite auftreten kann und Szenerien wie das von der Bild vom Zaun gebrochene Kesseltreiben gegen Christian Drosten verhindern könnte.

Auch der Bewältigung der Krise mittels Shutdown und Social Distancing wird ein eigener Abschnitt gewidmet. Hier wird auch darauf eingegangen, wie man vom Shutdown wieder in die Normalität einsteigen sollte.

Der letzte Abschnitt ist mit einem aufmunternden „Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe“ überschrieben, was mich spontan an Lars Fischers Youtube-Kanal „Wir werden alle sterben“ erinnert hat 😉

Aber seien wir realistisch, so eine Zoonose wie Sars-CoV-2 kann natürlich immer wieder passieren. AIDS, Ebola, Corona, all diese Krankheiten sprangen vom Tier auf den Menschen über, mit fatalen Folgen. Dazu kommen dann noch die weiteren Herausforderungen, die auf die Menschheit zukommen bzw. schon da sind. Nehmen wir hier nur den Klimawandel als Beispiel.

Im letzten Kapitel gehen die Autoren noch einmal auf den Begriff der „Philosophie in Echtzeit“ ein, indem sie zehn Thesen hierzu entwickeln. Hier wird bspw. ausgeführt, dass die Philosophie in Echtzeit durch aktuelle Ereignisse erzwungen wird. Das können gesellschaftliche Entwicklungen oder Katastrophen jeder Art sein. Aber gerade diese Aktualität macht diese Art der Philosophie störanfällig. Vor allem weil wir die Probleme ja voraussehen müssen, um uns bereits heute über kommende Probleme Gedanken machen zu können und zwar in jede Richtung.

Mein Fazit: 120 Seiten, die sich lohnen. Hierdurch versteht man die Dynamik dieser Pandemie sowohl auf medizinisch/wissenschaftlicher sowie gesellschaftliche/politischer Ebene besser. Vor allem ist es durchaus spannend zu sehen, wie die Philosophie hier als Brückenbauer auftreten und uns allen helfen kann, die Krise besser zu bewältigen. Es bleibt zu hoffen, dass nach der kompletten Bewältigung der Corona-Pandemie, in sagen wir mal zwei Jahren, eine Neuauflage auf den Markt kommt, die auch diejenigen Ereignisse berücksichtigt, die noch vor uns liegen.

Von mir eine klare Leseempfehlung!

Bibliographische Angaben:
Mukerji, Nikil/Mannino, Adriano: Covid-19: Was in der Krise zählt – Über Philosophie in Echtzeit. Stuttgart: Reclam, 2020. 120 S.
ISBN 978-3-15-014053-6
6,00 €

7 Gedanken zu “Gelesen: Mukerji, Nikil/Mannino, Adriano: Covid-19: Was in der Krise zählt – Über Philosophie in Echtzeit

  1. Ja, eine Gefahr von Zoonosen besteht im Grundsatz immer. Wir wissen aber ziemlich genau, durch welche Umstände Zoonosen in den letzten 100 Jahren ausgelöst wurden, und wo eben keine Zoonosen entstehen.
    Danach ist deutlich davon auszugehen, dass mit der Modernisierung der Tierhaltung in Süd- und Ostasien und vielleicht irgendwann auch in Afrika die Gefahr von Zoonosen dramatisch zurückgehen wird. Wenn man, wie bei uns weitgehend üblich, einen Kontakt von Nutztieren mit Wildtieren konsequent unterbindet und gleichzeitig den Kontakt mit dem Menschen minimiert und so hygienisch wie möglich gestaltet, hat man tatsächlich sehr wenig Grund, sich Gedanken über Zoonosen zu machen.

    1. Wenn – da gibt es aber sehr, sehr viel zu tun. Vielleicht beschleunigt Corona die Sache ja.

      Uns hier graust es z.B. bei der Meldung, dass aus Infektionsschutzgründen in einer chinesischen Region gerade der Verzehr von Murmeltieren untersagt wurde… Aber Derartiges ist nun mal in vielen Weltregionen „normal“. Ich bin in einer Diskussion vor kurzem gar mit jemand zusammengetroffen, der die Forderung nach einem Ende der Tierhaltungs- und Tierverwertungsformen z.B. in Asien gleich mit dem Bann eines „Kulturimperialismus“ belegte.

      Es ist wahnsinnig viel zu tun. Dazu gehört auch ein Ende des menschlichen Vordringens in die angestammten Wildtier-Lebensräume und damit eine Überlappung derer von Mensch und Wildtier. Man weiß recht gut, was zu tun ist. Aber: Derzeit kriegt Europa offenbar nicht einmal den Schwarzimport von Bushmeat unter Kontrolle (https://www.spektrum.de/news/seuchengefahr-im-gepaeck/1740812).

  2. Bei allem Respekt, lieber Michael, aber zwischen „nicht absehbar“ und „unvorbereitet“ gibt es doch einen Unterschied, nicht wahr? Man hat ja auch eine Feuerwehr, ohne dass ein /bestimmter/ Brand vorhersehbar ist. Und /dass/ uns irgendwann wieder irgendeine Ansteckungskrankheit befallen wird, ist sehr sicher – und wurde auch regierungsseitig vorhergesehen, nur aber dann nichts unternommen. Und ich meine mich zu erinnern, dass das so auch im Buch steht.

    Was mir sehr gut gefallen hat, ist dann aber die detaillierte Betrachtung der Handlungsoptionen, wenn man erstmal in die Situation geworfen ist, und dies quasi oberhalb der einschlägigen Fachwissenschaften (Medizin, Jura, Ökonomie u.a.), eben aus ethischer und philosophischer Sicht – gekoppelt mit konkreten Empfehlungen, also eben nicht abgehoben oder rein theoretisch.

    Was mich außerdem beeindruckt hat, ist übrigens die Schreib- und Publiziergeschwindigkeit von Autoren und Verlag. Wer schafft es schon, ein quasi tagesaktuelles Buch herauszubringen?

  3. Lieber Michael, ich teile Deine positive Einschätzung dieses äußerlich so unscheinbaren Büchleins. Es sei vielleicht noch hervorgehoben, dass es hier nicht um die – in Windeseile sich ändernden – medizinwissenschaftlichen Einzelheiten geht, sondern um einen sinnvollen Umgang mit eben dem Umstand, dass sie sich in Windeseile ändern – genau wie die Pandemie und ihre Parameter selbst.

    Die Autoren zeigen auf, dass wir nicht völlig hilflos sind in solch plötzlichen dynamischen Situationen, sondern dass die genannte „Philosophie in Echtzeit“ rationale Instrumentarien bereithält, um auch ohne gesicherte Faktenbasis mehr zu erreichen als Entscheidungen „ins Blaue hinein“. Wir lernen dabei sogar, dass in Unsicherheitssituationen Entscheidungen rational sein können, die unter gesicherten Bedingungen irrational sein könnten.

    Danke, dass Du dieses wichtige Büchlein, das wirklich aus der Kakophonie der auf uns niedergehenden Bücherwolke zu Corona herausragt, hier besprichst!

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